Bevor ich mich mit linken sozialen Bewegungen in Deutschland auseinandersetze, ist es zum besseren Verständnis - auch der stark beeinflussenden europäischen Rahmbedingungen –sinnvoll, die ersten drei Thesen dem europäischen Kontext zu widmen.
These 1 – Beschleunigung neoliberaler Reformen in Europa
Die Durchsetzung neoliberaler Politik in Europa hat sich seit dem Jahr 2000 mit der Strategie von Lissabon, Europa zum dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln, beschleunigt. Diese Entwicklung wird verbunden mit den Konzepten eines „aktivierenden“ Sozialstaates mit „aktivierender“ Beschäftigungspolitik. D.h. staatliche Aufgaben werden zugunsten weiterer Kürzungen geprüft; gleichzeitig wächst der Druck auf Arbeitlose und Sozialhilfeempfänger ungeachtet der eigenen Qualifikation und Lebenssituation so gut wie jede Arbeit anzunehmen. Fast zeitgleich werden in den meisten europäischen Ländern wie Frankreich, Belgien, Dänemark, Irland, den Niederlanden entsprechende Beschäftigungsprogramme installiert: Was für Deutschland das „Jobaktivgesetz“ als Vorläufer der Hartz-Gesetze war, war für Frankreich der „Plan zur Rückkehr in Arbeit“ (Plan d’ aide au retour à l’emploi). Die Rentenreformen Anfang der 90er Jahre in Griechenland mit der Herabsetzung des Rentensatzes von 80 auf 60% und Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 65 vollziehen sich analog in Deutschland, Franreich, Italien.
Neue gesetzliche Regelungen zu den Betriebsrentensystemen sind auf Deregulierung und Öffnung für den Wettbewerb und letztlich auf die Schaffung eines Marktes europäischer Pensionsfonds gerichtet. Die Reform der Gesundheitsvorsorge wird verknüpft mit der Schaffung eines europäischen Gesundheitsmarktes. Ab 2006 soll europaweit der soziale Schutz: Rentenreformen, Gesundheitsversorgung und Altenpflege zusammengefasst und entsprechend dem Diktat neoliberaler Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden. Entsprechend kennzeichnet die „sozialpolitische Agenda 2007 – 2013“ die einzuschlagende Richtung: Verlängerung des Arbeitslebens, Modernisierung der Sozialschutzsysteme, Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten, Gewährleistung von Flexibilität und Sicherheit, Arbeit lohnenswert machen, usw. Komplementär dazu beinhaltet der Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie (so genannte Bolkestein-Richtlinie (1)) die Abschaffung staatlicher Vorschriften zur Regulierung aller – auch sozialer Dienstleistungen bis 2010 mit der Folge, direkt in die Gesundheitssysteme und die sozialen Dienste sowie Versorgungssysteme der europäischen Länder einzugreifen.
These 2 – Widerstand wächst in Europa
Gegen diese Politik wächst der Widerstand in Europa. 2003 und 2004 durchzogen Streikwellen Frankreich, Österreich, Italien, Deutschland. Millionen streikten 2003 in Frankreich und Italien gegen die Kürzung der Renten. Spanische Werft- und Automobilbauer streikten gegen die Schließung der Werften und Fabriken. 40.000 Beschäftige forderten in Griechenland 2005 landesweit den Stopp von Privatisierungen öffentlich-rechtlicher Unternehmen. In den Niederlanden legten Ärzte und Schwestern 2005 gegen Reformen im Gesundheitswesen die Arbeit nieder. Millionen Menschen meldeten sich 2005 in ganz Europa gegen die europäische Verfassung, gegen die Festschreibung neoliberaler Politik zu Wort. Das französische “Non” und kurz darauf das Nein der Niederländer wurde zu einem internationalen vielstimmigen linken „Nein“. Es war ein gemeinsamer europäischer Protest einer pluralen europäischen Linken, der die sonst wirksame “Ungleichzeitigkeit” und die Unverbundenheit sozialer Bewegungen und Proteste überwinden konnte.
These 3 – neue Akteure entwickeln sich in Europa
Seit November 2002 entwickeln sich neben den Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbänden, sozialen Bewegungen die europäischen und regionalen Sozialforen zu eigenständigen, selbstbewussten Akteuren. In der Tradition von Porto Alegre werden aus europäischer Sicht die Herausforderungen der Globalisierung diskutiert, die Folgen neoliberaler Politik analysiert und die politische, soziale und wirtschaftliche Verantwortung Europas eingefordert. Eine andere Welt, die möglich ist, braucht ein anderes Europa. Deshalb versammelten sich auf den europäischen Sozialforen in Florenz 2002, Paris 2003 und London 2004 Vertreter aus über 150 Ländern mit insgesamt über 200.000 Teilnehmern auf der Suche nach alternativen Wegen europäischer Entwicklung. Dort beschlossene europäische Aktionstage richten sich gegen eine Militarisierung Europas, gegen die europaweite Politik des Sozialabbaus für ein friedliches, demokratisches, soziales Europa. 120.000 Menschen, darunter zahlreiche Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Vertreter linker Parteien nahmen am 19. März 2005 am europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau und gegen die Durchsetzung der Dienstleistungsrichtlinie Bolkestein in Brüssel teil.
These 4 – die neoliberale Hegemonie in Deutschland wird brüchig
Die Anwendung der europäischen neoliberalen Strategie von Lissabon auf die Verhältnisse in Deutschland, fand ihren konzentrierten Ausdruck in der von der Sozialdemokratie formulierten “Agenda 2010”. Mit der darin verankerten Politik des Sozialabbaus, der Deregulierung, der Privatisierung öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge wird der seit den 50er Jahren etablierte Sozialstaatskompromiss nicht nur hinsichtlich seines Inhalts, sondern gleichermaßen als demokratisches Instrument zur Aushandlung der Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit in Frage gestellt. Parallel hierzu verliert die christlich-soziale Arbeitnehmerpolitik im bürgerlichen Lager als integratives Randthema fast vollständig ihre Bedeutung, so dass die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie im neoliberalen Bündnis konzeptionell und realpolitisch neoliberale Politik durchsetzen und verteidigen: Wachstum schaffe Arbeit, Reformen sichern den aktivierenden Sozialstaat.
Dennoch bleibt es auch 2005 bei ca. 5 Millionen Arbeitslosen. Auch deshalb trauen 67 % der Deutschen keiner Partei mehr zu, die Probleme des Landes zu lösen. (2) Wachsende Wahlverweigerung prägte die Wahlen auf Bundes- und Landesebene Ende der 1990er Jahre. Die Sozialdemokratie verlor in fast allen Bundesländern die Mehrheit. Nur noch 44 % ihrer Anhänger waren vor den letzen Bundestagswahlen davon überzeugt, dass ihre eigene Partei für soziale Gerechtigkeit eintritt, folgerichtig verlor die Sozialdemokratie auch bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 die Mehrheit. Knapp eine Million SPD-Wähler gaben ihre Stimme der sich neu formierenden Linkspartei, die mit 8,7 % als gesamtdeutsches linkes Projekt in den Bundestag einzieht. D.h. der soziale Protest hat sich politisch nach links orientiert, eine Orientierung, die jedoch in sich fragil und bisher nicht auf Dauer gestellt ist, so wie sich das neue parteipolitische Projekt als ein linkes Projekt wird beweisen müssen.
These 5 – Selbstrepräsentanz der Akteure
Die Ergebnisse der Bundestagswahlen spiegeln bisher nur zaghaft die Entwicklungen des sozialen Protestes gegen die Durchsetzung der aktivierenden Arbeitsmarktgesetze, (Hartz-Gesetze) – als Kern der “Agenda 2010”. Mehr als eine Halbe Million Menschen gingen am 3. April 2004 gegen die rot-grüne Agenda auf die Straße. Betroffene, Nichtorganisierte schrieben ihre Wut auf Flugblätter, verteilten sie und gingen mit selbstgefertigten Plakaten auf die Straße. Ab August 2004 wuchs Woche für Woche die Zahl der sich selbst organisierenden “Montagsdemonstrationen” (3) gegen die Arbeitsmarktreformen. Im Herbst 2004 fanden diese Demonstrationen mit mehr als 100.000 Teilnehmern in über 150 Städten, vor allem im Osten Deutschlands statt, dort, wo die Wirkungen der Hartzgesetze auf die Folgen der Deindustrialisierung seit 1990 und auf die sich gleichzeitig vollziehenden Umgestaltung und Flexibilisierung der Arbeit und Dezentralisierung großer Unternehmen seit 1990 treffen. Bewusst wird an Formen und Begriffe des Protestes angeknüpft, die 1989 die transformatorische Wende einleiteten und die mit einem Selbstverständnis verbunden sind: Betroffene als eigenständige, souveräne Akteure, unabhängig von ihrer politischen oder gesellschaftlichen Bindung. 87 % der Protestierenden hatte jemand in Familie oder Bekanntenkreis, der von den Arbeitsmarktreformen betroffen war; mindestens 40 % war selbst betroffen. Es waren vor allem Arbeiter und Angestellte, mehr Männer als Frauen, vorwiegend zwischen 45 und 64, ein Großteil von ihnen in hochqualifizierten Berufen tätig oder tätig gewesen. (4)
Die Spitzen der Gewerkschaften standen diesen Protesten ambivalent gegenüber: einerseits entsprach der Protest auch gewerkschaftlicher Kritik, anderseits hemmte die Nähe zur Sozialdemokratie aktiven Protest (5). Der Dachverband der Gewerkschaften in Deutschland (DGB) rief deshalb nicht zur Unterstützung der Proteste auf, sondern überließ die Entscheidung zur Teilnahme an den Protesten den einzelnen Mitgliedsorganisationen und Gliederungen, die sich mit unterschiedlichem Gewicht beteiligten, letztlich aber das erfolglose Abflauen dieser Protestwelle Ende 2004 mit bewirkten.
These 6 – neue gesellschaftliche Bündnisse werden möglich
Zum Teil parallel zu diesen Protesten entwickeln sich die Sozialforen in Deutschland. 35 lokale Foren gründeten sich in den letzten zwei Jahren, erstmals fand im Sommer 2005 ein nationales Sozialforum statt. Ca. 200 Organisationen führten ca. 300 Veranstaltungen durch; insgesamt beteiligten sich am Forum ca. 3.000 Teilnehmer. Angesichts der relativen Schwäche der sozialen Bewegungen in Deutschland ist jedoch nicht die Quantität entscheidend, sondern die Tatsache, dass es überhaupt stattfand und sich maßgebliche Organisationen, wie die IG Metall, der Deutsche Gewerkschaftsbund Thüringen, die Gewerkschaft des Öffentlichen Sektors (verdi), ATTAC, Brot für die Welt und andere kirchliche Gemeinschaften an der Vorbereitung und Durchführung beteiligten. Erstmals war es möglich, dass sich eine solche Breite sozialer Bewegungen, Verbänden, kirchliche Organisationen, Gewerkschaften in einem selbstgeschaffenen Raum zusammenfanden. Dazu musste zunächst in einer komplizierten Phase der Vorbereitung die Bedeutung und Besonderheit eines solchen Forums, seine Chancen und Möglichkeiten, seine Anbindung an bisherige Arbeits- und Vernetzungsstrukturen geklärt werden.
Mit der Notwendigkeit dieser Foren auf internationaler und europäischer und lokaler Ebene stellte sich nicht zwangsläufig die Notwendigkeit für die nationale Ebene. Denn je mehr das Sozialforum an die Realität der Menschen herangebracht wird, desto stärker kann es sich im bestehenden gesellschaftlichen und politischen Leben verankern, so dass sich die Frage nach dem Gebrauchswert des Forums über bestehende Bündnisarbeit, Kongresse, Sommerakademien etc. hinaus stellt. Was heißt es, wenn ein Forum sich selbst organisiert, sich vor allem als Raum versteht und was bedeutet es, die Charta von Porto Alegre in Deutschland, unter den Bedingungen des Wahlkampfes und eines sich neu formierenden linken Projekts anzuwenden? Bei der Beantwortung dieser Fragen ging es um die Vermittlung des Forumsgedanken gegenüber jenen, die bisher diesen Prozessen fern standen: es geht um die Konstituierung eines Raumes; Beschlüsse werden nicht gefasst und niemand kann im Namen des Forums sprechen. Und es ging um die Verteidigung eines hochpolitischen Diskursraumes unter den Bedingungen und Aushandlungsprozessen sozialer und politischer Akteure in Deutschland. Erstmalig entwickelte sich unter dieser Prämisse ein Diskussionszusammenhang zwischen Erwerbslosen-Initiativen und Gewerkschaften, Jugendlichen, Studenten und Frauenbewegungen, MigranInnen, Umweltschützer, zivilgesellschaftliche Initiativen, die es in dieser Form bisher nicht gab.
Die Angebote des Forums waren nach fünf thematischen Schwerpunkten gebildet worden: 1. Arbeit und Menschenwürde, 2. Globalisierung und die Rolle Deutschlands in der Welt, 3. Menschenrechte und politische Teilhabe, 4. eine lebenswerte Welt – anders leben, 5. EU-Europa: In welcher Verfassung sollte es sein. Darüber hinaus gab es einen Frauenraum.
Der Streit um die neue, andere Welt wurde verbunden mit den Fragen von Mindestlohn, Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung und der konkreten Ausgestaltung dieser Forderungen. Die Erklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen wurde von den Teilnehmern auf dem Forum selbst erarbeitet. Darin wird ein grundsätzlicher Wandel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gefordert, eine Grundsicherung für alle, weltweit friedliche statt militärische Konfliktlösung und der Ausstieg aus der Atomenergie. Die Bedeutung dieser Erklärung liegt jedoch vor allem in den konkreten Vorschlägen für die weitere gemeinsame Praxis.
Dennoch bleiben offene Fragen: warum war es nicht möglich, das Umfeld des Sozialforums und die Bevölkerung der Stadt Erfurt stärker in das Forum einzubinden? Warum war es nicht möglich, die Abschlussdemonstration zu einem der Höhepunkte des Forums zu entwickeln? Warum waren wichtige Themen nur marginal vorhanden, wie das Thema Migration? Warum fehlten wichtige Akteure, wie z.B. die autonome Linke oder beteiligten sich nur mit minimalem Angebot wie die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO)?
Es war ein guter Anfang, der jedoch auch die relative Schwäche der sozialen Bewegungen in Deutschland im Unterschied zu Italien oder Frankreich deutlich machte. Es wächst zwar die durchschnittliche Zahl der am Protest beteiligten Organisationen und Gruppen, aber diese Tendenz ist nicht mit einer Ausweitung protestierender Bevölkerungsteile verbunden. Ob die Protestwelle gegen die Hartzgesetze Ausnahme oder der zaghafte Beginn einer neuen Tendenz ist, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig wirkt außer Attac – zumindest in der in der Öffentlichkeit wahrnehmbar – kaum eine basisdemokratische Organisationen in die Mehrheitsgesellschaft hinein, obwohl das Interesse an internationalen Prozessen und Fragen nach alternativer Gestaltung von Gesellschaft wächst. (6) Es wächst das Interesse an theoretischen Reflektionen, an Seminaren und Workshops, am persönlichen Austausch wie sie auf der Sommerakademie von Attac und der Jahrestagung des BUKO angeboten und genutzt werden. Und es wächst das Bedürfnis nach mehr Freiraum und Selbstbestimmung, was das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit einschließt. Wie lassen sich nun unter diesen Bedingungen weitere Potentiale sozialer Bewegungen für Herausbildung einer Formation gegen neoliberale Politik in Deutschland erschließen?
These 7 – noch fehlen auf den Foren die nichtorganisierten Protestanten
Erst wenn es gelingt, das Forum auch zum attraktiven Ort der Nichtorganisierten wie der Protestierenden gegen die Hartz-Gesetze zu machen, wird der angelegte Raum des Forums tatsächlich Optionen für gesellschaftlich mehrheitsfähige alternative Projekt öffnen. Welches aber sind die notwendigen Bedingungen dafür, dass der Montagsdemonstrant und der Streikende gegen die Schließung einer Bosch-Niederlassung in Niedersachsen in den Sozialforen auch seinen Ort für Protest, Vernetzung und für die Suche nach Wegen zu einer gerechteren Gesellschaft sieht und das Thema: Arbeit in Würde selbst besetzt? Das Spektrum der Betroffenheit durch soziale Konflikte und sozial orientierte Werthaltungen ist breit. (7) Wie aber führt Betroffenheit zum Handeln, zum selbst aktiv werden? 40 % in Deutschland erklären ihre Bereitschaft zu persönlichem Handeln, wenn Erfolgsaussichten dieses Handelns erkennbar sind. Zu den begünstigenden Faktoren gehören außerdem die durch Alltagserfahrung und Werte gestützten Interessen, die gemeinsame Situationsdeutung in Wechselwirkung mit der öffentlichen Meinung, die Legitimierung des Handelns. Das setzt voraus, die Individualisierung von Leidenserfahrung aufzubrechen und die Vision einer anderen, gerechteren Gesellschaft zu verknüpfen mit konkret erfahrbaren Verbesserungen des eigenen Lebens und das wachsende Verständnis über das Wirken sich gegenseitig bedingender globaler, europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Konflikte.
Gerade auch die Analysen und das Wissen um die Wechselbeziehungen unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Ebenen und Akteurskonstellationen, ihrer Eigenlogik sind Voraussetzungen sowohl für linke – auch systemübergreifende - Kritik als auch für die Bündelung von Protest und die Konzipierung von Alternativen. In diesem Sinne haben sich vor allem ATTAC, WEED, BUKO in den vergangenen Jahren vor allem als systemkritische Aufklärer von globalen Prozessen im 21. Jahrhundert verstanden und engagiert. Und dort, wo die Vernetzung mit Akteuren verschiedener gesellschaftlicher, auch politischer Ebenen möglich war, waren sie gleichermaßen diskurs- und handlungsfähig. So war auf dem Erfurter Sozialforum das Problem der Privatisierung des Wassers sowohl Thema der Allianz der Bürgerinitiativen in Erfurt selbst, Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen der Landtage u.a. in Thüringen und Berlin – hier vor dem Hintergrund der Privatisierung der Wasserbetriebe unter Regierungsbeteiligung der Linken, als auch Gegenstand globaler Prozesse der Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge insbesondere Lateinamerikas, mit der Darstellung eines Lösungsansatzes am Beispiel Uruguays. Das heißt der Diskurs muss an bisherige Diskussionsprozesse, an vorhandene Strukturen, Arbeitsergebnisse und an – wie auch immer gestaltete Erfahrungen der Akteure anknüpfen, muss sie auf neue Weise vernetzen, europäisieren bzw. internationalisieren, ohne ihre lokalen, regionalen Wurzeln zu vernachlässigen. Nur scheint zunächst die Attraktivität von Reform oder gar Revolution auf anderen Kontinenten attraktiver - die Utopie verliert sich nicht im alltäglich Notwendigen und Mühseligen - ein Problem, vor dem auch ATTAC in Deutschland steht.
Anknüpfen heißt aber auch an bisherige – auch historische - Entwicklungen und Erfahrungen sozialer Bewegungen ggf. ihr Scheitern zu verarbeiten, wie die Erfahrungen der Friedensbewegung in Deutschland – ihr Kampf gegen die Militarisierung der BRD 1955, gegen den Nato-Doppelbeschluss 1982, gegen die Neutronenwaffen, gegen die Auflösung der NATO, gegen den Irak-Krieg am 15.2.2003. In welcher Weise lassen sich diese Erfahrungen für künftige Proteste nutzen? Wo lassen sich Diskussionsprozesse reaktivieren und neu zusammenführen und was sind die Bedingungen hierfür? Kann z.B. der konziliare Prozesses „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ an dem sich über ein Jahrzehnt alle christlichen Konfessionen und Traditionen beteiligt haben, an dem auch mit beeindruckenden inhaltlichen Beiträgen die Evangelischen Kirchen in Deutschland beteiligt haben im Rahmen oder Umfeld des Sozialforums konstruktiv aufgegriffen werden angesichts der unübersehbaren Kommerzialisierung der Kirchentage? Ist der Raum offen genug, um als Angebot nicht nur entwicklungspolitische kirchliche Initiativen, sondern als Raum der Diskussion zu gesellschaftlichem Handeln aus christlicher Verantwortung angenommen zu werden?
Gleichermaßen notwendig ist die stärkere Vernetzung zwischen der globalisierungskritischen Bewegung mit Dritter-Welt-, Ökologie- und Friedensbewegung. Wo lassen sich hier Anätze auch für die in Deutschland etablierte NGO’s finden, deren Projekte zunehmend in Frage gestellt oder mit internationaler Unverbindlichkeit wie der Folgekonferenz von Rio konterkariert werden. Lässt sich die Verarbeitung und Reduzierung des ehemals politischen Anspruchs zur „kulturelle Identität“ bis zu seiner Unkenntlichkeit neu beleben? Kann virtuelle Raum gesellschaftsreflektierender Debatten in der Mehrzahl der NGO’s in Deutschland um den realen Raum gesellschaftskritischer Diskurse und realer sozialer Proteste auf Straßen und Plätzen erweitert werden, auch um das vorhandene Wissen und Kompetenzen in diese neuen Diskurse einspeisen? Und wie vor allem lässt sich ein kontinuierlicher Diskurs zwischen sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften entwickeln?
These 8 – Gewerkschaftliche Ablösung von der Sozialdemokratie – Voraussetzung für neue Allianzen
In Deutschland gibt es seit 1945 eine Arbeitsteilung zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie durch eine besondere Ausgestaltung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit in Form der Sozialpartnerschaft und dem dualen System von betrieblichen Arbeitsbeziehungen und Tarifbeziehungen. Während die Aufgaben der Gewerkschaften in ihrer Schutzfunktion (Arbeits- u. Lebensbedingungen), der Verteilungsfunktion (Anpassung der Löhne und Gehälter an Produktivität und Wachstum) und Partizipationsfunktion (Mitbestimmung bis zur Montan- bzw. Paritätischen Mitbestimmung) besteht, ist es Aufgabe der Betriebsräte, gebunden an ihre „Friedenspflicht“ in den Unternehmen, alle innerbetrieblichen Angelegenheiten im Interesse der Arbeitnehmer möglichst im Konsens zu klären. Kern der Sozialpartnerschaft war die Tarifautonomie, d.h. der Staat mischt sich nicht in die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen. Hier können die Gewerkschaften bei unzureichenden Ergebnissen die auf die klassischen Kampfmittel, insbesondere der Arbeitsniederlegung zurückgreifen. Dieses Kampfmittel darf jedoch nicht aus politischen Gründen in Anspruch genommen werden. D.h. Gewerkschaften können sich zwar an Demonstrationen gegen neoliberale Reformen beteiligen, dürfen hierzu aber nicht zum Streik aufrufen: politische Streiks sind in Deutschland verboten. Als politischer Ansprechpartner der Gewerkschaften verstand sich bisher die Sozialdemokratie. Ihre Politik stand – wurde zumindest so wahrgenommen - bis Anfang der 80er Jahre für die Wahrnehmung und Verteidigung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Dieses Verständnis von „Arbeitsteilung“ verbunden mit dem entsprechenden Selbstverständnis der Gewerkschaften als mehrheitlich der Sozialdemokratie nahestehend, verhinderte in der Vergangenheit zum einen das Abdriften der SPD nach rechts und zugleich die Zuspitzung und Politisierung gewerkschaftlicher Kämpfe und Auseinandersetzungen bis hin zur Tabuisierung von Systemkritik, Macht- und Eigentumsfragen. Zugleich verstärkten die europäisierten Bedingungen der Arbeit, die Folgen der Globalisierung den Druck auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Das Problem der Konkurrenz sowohl innerhalb also auch zwischen den nationalen Arbeitnehmergruppen stellte sich in neuer, weit verschärfter Form. So hat sich unter dem Druck der Standortkonkurrenz eine neue Form des “Concession Bargaining“ herausgebildet, bei der die Arbeitnehmerseite im Rahmen betrieblicher Standort- und Wettbewerbspakte im Austausch für eine relative Beschäftigungssicherheit mehr oder weniger weitreihende Zugeständnisse bei Löhnen, betrieblichen Sozialleistungen, Arbeitszeiten und andere Arbeitsorganisatoren Dingen macht nicht selten überbetriebliche Solidaritäten aufkündigt. Die damit verbundene Schwächung der Gewerkschaften führte letztlich in den 90er Jahren endgültig zum Stillstand von Verhandlungen zur kollektiven Arbeitszeitverkürzung mit Einkommensausgleich. Stattdessen wurden in vielen Unternehmen befristete Arbeitszeitverkürzungen – auch in Gestalt flexibler Arbeitszeiten in Verbindung mit Einkommenssenkungen vereinbart, um Entlassungen zu vermeiden. Im Gegenzug erhielten die Beschäftigten Beschäftigungsgarantien. Die Gewerkschaften konnten dieser Entwicklung nur begegnen, in dem ihre Tarifpolitik den Betrieben vielfältige Optionen offen ließ, Umfang und Lage der Arbeitszeit zu variieren. Die Regelungskompetenz wird auf diese Weise auf die betriebliche Ebene verlagert, d.h. Verbetrieblichung der Tarifpolitik oder Verbetrieblichung der industriellen Beziehungen.
Mit der Durchsetzung insbesondere der Arbeitsmarktgesetze unter Regierungsverantwortung der Sozialdemokratie stehen auch die Gewerkschaften vor der Frage, eine Partei, die mit Einrichtung von so genannten “Ein-Euro-Jobs” (1,50 Euro pro Stunde) de facto die Tarifbestimmungen aushebelt, tatsächlich noch Arbeitnehmerinteressen vertritt. Dies vor allem war der Grund für die Teilnahme von zahlreichen Einzelgewerkschaften an den sozialen Protesten gegen diese Arbeitsmarktreform. Auf den Monatagsdemonstrationen traf man sich: Gewerkschafter, Vertreter von sozialen Bewegungen, Verbänden, linken Parteien: PDS und WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit). Es ging dabei nicht nur um Abwehrkämpfe, sondern es wurden zentrale Forderungen erhoben wie: Mindestlohn, Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung und die Neuordnung des Steuersystems. Zunehmend wird auch das Problem der Prekarisierung von Arbeit, die Ausweitung von Armut mit Arbeit ggf. Vollbeschäftigung Gegenstand gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen.
These 9 – Soziale Bewegungen und linker Parlamentarismus
Die Vielfalt der Positionen sozialer Bewegungen zum parlamentarischen System reicht von völliger Ablehnung als System erhaltend und stabilisierend bis zur Forderung, parlamentarischer Arm der Bewegung zu sein. Kontrovers diskutiert werden die Möglichkeiten und Gefahren, Chancen und Risiken oder gar die Funktion einer linker Partei im Parlament, fast ausgeblendet jedoch, dass ebenso soziale Bewegungen der Gefahr der Integration ausgesetzt sind und auch sie dem Sog der Integration ins hegemoniale System unterliegen. D.h. auch sie müssen selbstreflektierend immer wieder ihren eigenen Anspruch zu den gegenwärtigen Herausforderungen ins Verhältnis setzen, auch sie sind nicht per se vor politischer Häutung geschützt, wie sie die Partei der Grünen vom radikalen Kritiker zum Stabilisatoren des Systems erfahren hat. (8) Mit der Hoffnung auf ein gesamtdeutsches linkes, parteipolitisches Projekt, wurden die Erfahrungen systemstabilisierender Integrationskraft wachgerufen und daraus notwendige Konditionen für ein erfolgreiches Wirken einer linker parlamentarischen Kraft abgeleitet: die linke Fraktion braucht ein „nichtinstrumentelles Verhältnis“ zu den sozialen Bewegungen deren Basis nur Vertrauen sein kann. Dies kann sich nur entwickeln durch kompetente, kontinuierliche und kritische Arbeitskontakte, durch hochkarätige Angebote und eine Öffnung der Linkspartei gegenüber den Bewegungen und Intellektuellen (9). Dazu gehört die Verzahnung von Politikfeldern mit den politischen Ansätzen außerparlamentarischer Kräfte. Das dies nicht widerspruchsfrei sein wird, zeigt bereits jetzt die Debatte um bedingungsloses Grundeinkommen vs. Bedarfsorientierte Grundsicherung. Dass die Linkspartei als Gegengewicht zur parlamentarischen, systemintegrierenden Kraft starke soziale Bewegungen braucht ist unstrittig, das Problem nur ist, dass sie sich auf diese gegenwärtig noch nicht stützen kann. Was Rosa Luxemburg mit Blick auf die Sozialdemokratie sagte, gilt heute wohl mindestens so sehr für das Projekt einer neuen Linkspartei: „Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen.“
1 Die Richtlinie wurde nach dem sie entwerfenden EU-Kommissar Fritz Bolkestein benannt. Ziel dieser Richtlinie ist die vollständige Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes für Dienstleistungen bis 2010, einschließlich von Gesundheitsdienstleistungen. Ihr strategischer Kern ist das Herkunftsprinzip, d.h. der Dienstleistungserbringer ist lediglich den Rechtsvorschriften des Landes der Niederlassung verpflichtet.
2 Steffen Twardowski (2005). Kein Konzept, keine Alternative – keine Stimme. Neues Deutschland vom 30.08.2005
3 Diese selbst orgainisierten Demonstrationen leiteten 1989 in der DDR die transformatorische Wende ein.
4 Dieter Rucht, Mundo Yang (2004) Pressepapier Hartz IV vom 21.09.2004
5 Michael Sommer, Vorsitzender des DGB, begründete dies mit der großen Nähe von Gewerkschaften und Sozialdemokratie – siehe hierzu: Michael Sommer 2004 im Film: “Die neue Wut”. Siehe: www.neueWut.de
6 Der letzte Kongress der Bundeskoordination für Internationalismus erfährt nun nach seiner Hochphase Ende der 70iger/Anfang der 80er Jahre wieder regen Zuspruch. (siehe ...
7 Chrapa, Michael/Dellheim, Judith (2003): Akteure. In: Zukunftsbericht der Rosa Luxemburg Stiftung, S. 279.
8 Elmar Altvater (2005). Das ewige Haar in der Suppe. Protest und Parlament. Warum die Linkspartei in den Bundestag gehört und was dabei zu bedenken ist – eine Erwiderung auf Raul Zelik, Wochenzeitschrift
Freitag vom 16.09.2005
9 André Brie (2005). Große Herausforderungen. Sechs Thesen zur Perspektive der Linkspartei: Chancen, offene Fragen, Probleme