Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung Der Verlust der Machtperspektive

Zum Wahlprogramm-Parteitag der Grünen in Berlin. Text der Woche 28/05 von Jochen Weichold

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Juli 2005

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Zum Wahlprogramm-Parteitag der Grünen in Berlin

Links ist wieder in. Kaum zeichnete sich das Projekt einer neuen Linkspartei am politischen Horizont ab, sah sich die SPD genötigt zu verkünden, sie würde beabsichtigen, einige der schlimmsten Grausamkeiten von „Hartz IV“ zurückzunehmen. Und plötzlich plädierten die Sozialdemokraten für eine Reichensteuer, für kostenfreie Kindergartenplätze, für „sozialen Fortschritt“ und für „Wohlstand für alle“.

Da wollten Die Grünen nicht zurückstehen: Schon bei der Vorstellung ihres Programms zur Bundestagswahl 2005 Mitte Juni erhob Parteichefin Claudia Roth für Bündnis 90/Die Grünen den Anspruch, eine „moderne, werteorientierte und emanzipative Linke“ im Parteienspektrum der Bundesrepublik zu verkörpern.

Auch die Debatten auf 24. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) der Grünen am 9. und 10. Juli 2005 in Berlin, auf der die Öko-Partei ihr Wahlprogramm diskutierte und mit nur einer Gegenstimme verabschiedete, standen ganz im Zeichen der veränderten politischen Landschaft in Deutschland, in der sich einerseits ein Regierungswechsel (der Verlust der rot-grünen Regierungsmehrheit) und andererseits das Entstehen einer neuen Linksformation abzeichnen. Die Wut der Grünen über den großen Koalitionspartner, der den kleinen mit der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen so schnöde vor die Tür gesetzt hatte, kochte zwar noch, doch die Delegierten ließen auf ihrem Parteitag den Deckel auf dem Topf. Heftig attackierten sie vor allem die Unionsparteien und die FDP einerseits und die PDS bzw. die neue Linksformation andererseits, während der sozialdemokratische Koalitionspartner sichtbar geschont wurde.

Einstimmung auf den Bundestagswahlkampf

Im Bericht des Bundesvorstandes ging Parteichefin Claudia Roth zunächst auf die Terroranschläge in London ein, mit denen ein Krieg der Kulturen und Religionen provoziert werden solle. Die Antwort der Grünen darauf heiße Dialog der Kulturen und Religionen. „Wer – wie Angela Merkel – der westlich orientierten Türkei die Tür (der EU – J. W.) vor der Nase zuschlagen will, der begeht einen gefährlichen strategischen Fehler, der ist blind für unsere eigenen Sicherheitsinteressen, der sendet ein verheerendes Signal in die arabische und islamische Welt.“ Europas Identität basiere nicht auf Religionen, sondern auf Demokratie, auf Rechtsstaatlichkeit, auf Glaubens- und Religionsfreiheit, auf der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte. Wer wie Beckstein und Stoiber das grässliche Verbrechen von London zur innenpolitischen Aufrüstung missbrauche, betreibe eine unverantwortliche Politik. Denn wer Bürgerrechte, die offene Gesellschaft und die Balance von Freiheit und Sicherheit aufgebe, der habe im Kampf gegen den Terrorismus schon verloren.

Die Parteichefin verlangte von den Delegierten, die Jahre der grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ehrlich zu bilanzieren und sie nicht schön oder schlecht zu reden. Neben der Blockadepolitik der Union im Bundesrat und dem Strukturkonservatismus des sozialdemokratischen Koalitionspartners gehörten zur Bilanz „auch eigene Fehler“, so Roth. Ohne jedoch auf diese Fehler näher einzugehen, strich sie die Erfolge grüner Regierungsbeteiligung heraus: Die Grünen hätten Ökologie und Ökonomie miteinander verbunden. Die Ökosteuer habe 1,7 Prozent bei den Rentenbeiträgen und einen zehnprozentigen Rückgang bei den Treibhaus-Emissionen gebracht. Roth verwies ferner auf die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsvermittlung, auf die Stärkung der Bürgerrechte durch das Lebenspartnerschaftsgesetz und das neue Staatsbürgerschaftsrecht und nicht zuletzt auf „die ganz zentrale Frage von Krieg und Frieden“. In der Irak-Frage hätten Die Grünen „verantwortliche Friedenspolitik“ betrieben; Angela Merkels blinde Gefolgschaft für Georg Bush hätte Deutschland auf den Weg ins Irak-Debakel geführt.

„Die zentrale Gerechtigkeitsfrage ist die Überwindung der Arbeitslosigkeit“, unterstrich Claudia Roth. Notwendig seien in diesem Kontext die Senkung der Lohnnebenkosten, eine Mindestlohnregelung und die Ausweitung des Entsendegesetzes. Zudem müsse „Hartz IV“ korrigiert werden – bei der Zumutbarkeitsregelung, bei der Anrechnung des Partnereinkommens und bei der Höhe der Regelsätze. Ziel der Grünen bleibe eine „armutsfeste soziale Grundsicherung“. Auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik plädierte Roth für die Einführung einer „grünen Bürgerversicherung“.

Außenminister Joschka Fischer, schon im Vorfeld der BDK zum Spitzenkandidaten [1] der Öko-Partei erkoren, ging in der anschließenden aktuellen Debatte ebenfalls auf die Terroranschläge in London ein. Er unterstrich die Notwendigkeit, „dieser totalitären Herausforderung“ entgegenzutreten, die auf Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit und eine lebendige Zivilgesellschaft ziele. Die Antwort auf den Terrorismus müsse eine gerechtere Verteilung des Reichtums und eine menschliche Gestaltung der Globalisierung sein. Fischer warb in diesem Kontext dafür, die Türkei als Bindeglied zur islamischen Welt in die Europäische Union einzubinden. Die Ausgrenzungspolitik der CDU/CSU gegenüber der Türkei sei unverantwortlich.

Explizit befasste sich Fischer in einer fulminanten Rede mit der Rolle der Grünen im Spektrum der linken Parteien. Während die SPD sich noch überlege, ob sie „in Richtung Große Koalition dahin sinken soll“ und die PDS/WASG sich darauf vorbereite, „den linken Narrenzug am Hof der Union zu spielen“, müssten Die Grünen die Balance zwischen diesen Extremen hinkriegen. „Die Linke darf sich nicht auf die Opposition beschränken“, verlangte Fischer. Die neue Linksformation attackierte er in diesem Zusammenhang mit dem Blick auf Oskar Lafontaine als „links getarnten Rechtspopulismus“. Sie werde eine konservative Bundesregierung erst ermöglichen.

Fischer machte klar, dass bei der Wahl im September eine Richtungsentscheidung anstünde. Es gehe um die Frage, ob das Land mit den Grünen in Richtung einer ökologisch-sozialen Erneuerung schreite oder ob mit Konservativen und Liberalen „der Rückwärtsgang eingelegt“ werde. Bei einem Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb stünden der „Atomkonsens“, die Sicherung des Industriestandorts Deutschland durch die Marktfähigkeit der Erneuerbaren Energien und eine moderne Landwirtschafts- und Verbraucherschutzpolitik auf dem Spiel. „Falsche Entscheidungen in diesen Politikbereichen sind fatal, und Frau Merkel wird die falschen Entscheidungen treffen“, prophezeite der Spitzenkandidat. Jede ökonomische Entscheidung sei eine ökologische Entscheidung mit ökonomischen Konsequenzen. Mit dem Verweis auf die Kopfpauschale und die Angriffe der Union auf den Minderheitenschutz warnte Fischer: Was mit der Union und der FDP auf dem Spiel stehe, sei die Solidarität innerhalb der Gesellschaft.

Mit dem Blick auf die Bilanz der grünen Regierungsbeteiligung ermunterte Fischer die Delegierten: „Wir haben keinen Grund, mit hängenden Ohren in diesen Wahlkampf zu gehen.“ Und: „Es gibt kein Erstgeburtsrecht für Konservative und die Verpflichtung für Linke in die Opposition, wie Union und Liberale glauben“, rief Fischer. Wenn sich Die Grünen geschlossen und erneuerungsfähig aufstellen, dann könnten sie aus dem scheinbar Unmöglichen das Mögliche, nämlich den Wahlsieg, machen, sagte Fischer in seiner kämpferischen Rede. Da könnten die Konservativen und Liberalen ihre Möbelwagen, die sie schon geordert haben, wieder ins Depot zurückschicken.

Bei der Einführung in die Präambel des Bundestagswahl-Programms der Grünen hob Parteichef Reinhard Bütikofer erneut hervor, dass Die Grünen der Reform-Motor in der rot-grünen Bundesregierung seien bzw. gewesen seien. Das Programm solle zwei Botschaften vermitteln: Zum einen gehe es den Grünen um eine solidarische Modernisierung, die die Rechte der Teilhabe aller sichern müsse, nicht um eine „kalte Modernisierung“, wie sie Union und FDP im Geiste des blanken Neoliberalismus anstreben. Daher seien eine „armutsfeste solidarische Grundsicherung“ und Generationengerechtigkeit elementare Bestandteile grüner Modernisierungsvorstellungen. Zum anderen betonten Die Grünen die ökologische Verantwortung, wie sie sich in der Förderung erneuerbarer Energien niederschlage. Eine moderne, zukunftsfähige Ökonomie sei ohne grüne Werte heute nicht mehr denkbar. Und das Mitglied der Grundsatzkommission von Bündnis 90/Die Grünen, Peter Siller, charakterisierte Ökologie und solidarische Modernisierung als die Alleinstellungsmerkmale der grünen Partei.

Arbeit – Wirtschaft – Soziales

Die Behandlung des Komplexes „Arbeit – Wirtschaft – Soziales“ dominierte den Berliner Parteitag der Grünen. Zu diesem Teil des Wahlprogramm-Entwurfs waren die meisten der über 800 Änderungsanträge eingegangen, die von der Antragskommission strukturiert, gebündelt und mit Verfahrensvorschlägen versehen worden waren. Mit neun gab es zu diesem Programm-Teil auch die weitaus meisten Anträge, über die die rund 750 Delegierten abzustimmen hatten.

Den Schwerpunkt der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte bildete die Frage des Für und Wider einer Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Befürworter einer Erhöhung der Mehrwertsteuer, die insbesondere – aber nicht nur – aus dem neoliberalen Lager der Grünen kamen, argumentierten mit dem skandinavischen Modell: hohe Mehrwertsteuer, hohe Sozialleistungen. Sie behaupteten, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer sei notwendig, um die Lohnnebenkosten senken zu können. Die Mehrwertsteuer sei globalisierungsfest. Durch ihre Erhöhung würden die Exporte nicht verteuert, sondern durch die gleichzeitige Senkung der Lohnnebenkosten verbilligt werden. Mit dem Modell einer gestaffelten Mehrwertsteuer, wie es von Bundestags-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, dem bisherigen schleswig-holsteinischen Umweltminister Klaus Müller und anderen favorisiert wurde, könne die Erhöhung sozialverträglich gestaltet werden.

Die Gegner einer Erhöhung der Mehrwertsteuer verwiesen darauf, dass das skandinavische Modell nicht nur eine hohe Mehrwertsteuer kennzeichne, sondern auch einen hohen Spitzensteuersatz und eine erhebliche Vermögenssteuer, was insgesamt erst hohe Sozialleistungen möglich mache. Bundesumweltminister Jürgen Trittin sprach sich zwar für das skandinavische Modell aus, erklärte aber, bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer müssten wir – wenn es sozial gerecht zugehen soll – die Transfereinkommen erhöhen. Das Problem Deutschlands sei nicht, wie die neoliberalen Befürworter einer Mehrwertsteuer-Erhöhung unterstellten, die Wettbewerbsfähigkeit, sondern die fehlende Binnennachfrage. Im Export habe Deutschland hingegen eine Spitzenposition inne. Grünen-Wahlkampfchef Fritz Kuhn unterstrich, eine Mehrwertsteuer-Erhöhung in der jetzigen Situation sei Gift für die Konjunktur. Die angestrebte Senkung der Lohnnebenkosten könne durch andere Maßnahmen finanziert werden. Ein Delegierter verwies darauf, dass durch eine Mehrwertsteuer-Erhöhung jede Arbeitsstunde teurer gemacht werde. Das heiße aber nichts anderes, als dass der Markt – insbesondere für Dienstleistungen – gemindert und Schwarzarbeit attraktiver gemacht würden. Notwendig sei vielmehr der Abbau von Subventionen.

Nicht zuletzt mit dem Argument, Die Grünen müssten sich im Bundestagswahlkampf in dieser Frage deutlich von den Unionsparteien unterscheiden, [2] wurde in der Abstimmung der Antrag, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, mit großer Mehrheit abgelehnt. Man kann wohl davon ausgehen, dass das Ergebnis der Debatte ein anderes gewesen wäre, wenn Die Grünen davon hätten ausgehen können, auch nach der Bundestagswahl in der Regierung zu sitzen.

Heftige Debatten gab es auch um den Spitzensteuersatz und um die Ökosteuer. Ein Gegner einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes, mit der Die Grünen die Senkung der Lohnnebenkosten finanzieren wollen, bemühte die Glaubwürdigkeit der Grünen: Man könne doch nicht erst den Spitzensteuersatz senken und kurz danach beschließen, ihn wieder anzuheben. Stattdessen sollte man lieber die Steuerschlupflöcher stopfen. Die Befürworter des Antrags argumentierten, ein Spitzensteuersatz von 45 Prozent sei immer das Ziel der Grünen gewesen, nur habe die Union die Höhe von 42 Prozent im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat durchsetzen können.

Beim Streit um die Ökosteuer ging es im Kern darum, ob ihre Erhöhung auf Mineralöl zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll sei. Jürgen Trittin sprach sich entschieden gegen eine Ökosteuer-Erhöhung aus und verwies darauf, dass zum Zeitpunkt ihrer Einführung der Preis pro Barrel Rohöl bei 32 US-Dollar lag, heute jedoch das Barrel mit ca. 60 US-Dollar gehandelt werde. Damit werde bereits eine Lenkungswirkung weg vom Öl erreicht. Eine weitere Erhöhung der Ökosteuer würde insbesondere den Benzinpreis in neue Rekordhöhen schrauben.

Letztlich wurde beschlossen, den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anzuheben und die Ökosteuer auf ihrem jetzigen Niveau zu belassen. Die Aussicht auf noch höhere Benzinpreise hätte einen Aufschrei in den Medien provoziert und den Grünen nicht wenige Autofahrer als Wähler vergrault. Der 5-DM-Benzinpreis-Beschluss von Magdeburg stand als warnendes Menetekel an der Wand.

Kontrovers diskutiert wurde auch über die Frage einer Erhöhung des Renteneintrittsalters. Bereits im Vorfeld des Parteitages und auch auf der BDK selbst hatte der Stichwortgeber der grünen Neoliberalen, Oswald Metzger, von 1994 bis 2002 haushaltspolitischer Sprecher seiner Partei im Bundestag, eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und Abschläge von 30 Prozent auf die Rente bei einem früheren Renteneintritt gefordert. Nur mit radikalen Einschnitten bei den sozialen Sicherungssystemen, die weit über die so genannte Agenda 2010 hinausgehen, sei der Sozialstaat noch zu retten, so der „oberste Haushälter“.

Während eine junge Delegierte ganz in seinem Sinne die schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre forderte, um jüngeren Wählerschichten ein Zeichen für Generationengerechtigkeit zu senden, verwies eine ältere Delegierte darauf, dass sich die verschiedenen Kommissionen und Beratergremien einig seien, dass diese Frage erst 2013 zu entscheiden sei. Deshalb sollten Die Grünen diese Frage erst dann wieder aufgreifen und einer Lösung zuführen. Dabei schwang die nicht unbegründete Hoffnung mit, dass bis dahin eine schwarz-gelbe Bundesregierung den Grünen diese unpopuläre Maßnahme abgenommen haben werde.

Im Wahlprogramm der Grünen werden unter der Überschrift „Soziale Grundsicherung ausbauen“ weit reichende Korrekturen an „Hartz IV“ ins Auge gefasst, mit denen diese „Reform“ in Richtung des grünen Konzepts einer armutsfesten Grundsicherung verändert werden soll. Aktuell gehe es jedoch beim Arbeitslosengeld II vorrangig um die Angleichung der Regelsätze zwischen Ost und West, die stärkere Entkoppelung des Hilfebezugs vom Partnereinkommen, die Freistellung von notwendigen Altersvorsorgeaufwendungen sowie um den Zugang zur aktiven Arbeitsmarktförderung für Nicht-LeistungsbezieherInnen. „Die Regelsätze der Sozialhilfe und des Arbeitslosengelds II müssen angehoben werden, um mit den allgemeinen Lebenshaltungskosten besser Schritt zu halten, und sie müssen in einem transparenten Verfahren regelmäßig angepasst werden.“ Maßstab und Ziel bleibe das soziokulturelle Existenzminimum. Hier wurden wesentliche Elemente der Kritik, die die PDS seit langem an „Hartz IV“ geübt hat, aufgegriffen.

Ein Antrag, der sich gegen eine Anhebung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II wandte und davon ausging, die Regelsätze seien armutsfest, wurde mit übergroßer Mehrheit abgelehnt. Für den linken Parteiflügel und mit immanenter Kritik an der eigenen Parteiführung erklärte der Münsteraner Parteirebell Wilhelm Achelpöhler: „Wir Grünen wollen nicht nur darüber streiten, wie wir die Verarmung möglichst gerecht gestalten, sondern wir wollen die Armut bekämpfen.“

Ökologie und Ökonomie

Die Grünen reklamieren für sich, Ökologie und Ökonomie miteinander verbunden zu haben. Ein auf der BDK verteilter Flyer skizzierte die neun Leitprojekte zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die auf einem Kleinen Parteitag der Grünen im April 2005 in Gelsenkirchen beschlossen worden waren und inhaltlich Eingang ins Wahlprogramm gefunden haben: (1) Ökologische Modernisierung, (2) Energie: Wende zu innovativen, umweltschonenden Technologien, (3) Infrastrukturen der Zukunft, (4) Überall mobil: Maßgeschneiderte Mobilitätskonzepte, (5) Öffentliches Wissen – für eine offene Informationsgesellschaft, (6) Innovation braucht alle – Qualifizierung als Schlüsselressource, (7) Nachwachsende Rohstoffe und Biotechnologie, (8) Neue Technologiefelder erschließen, (9) Gesundheit als Wachstumsbranche.

Mit diesen ökologischen und sozialen Leitlinien, die zugleich an Schlüsselprojekte des Grundsatzprogramms von 2002 anknüpfen, setzen Die Grünen darauf, die Arbeitslosigkeit zwar mit „wirtschaftlicher Dynamik“, aber bei einer „Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch“ zu bekämpfen. Sie grenzen sich damit sowohl von den Vorstellungen der CDU/CSU als auch von strukturkonservativen Auffassungen von Teilen der SPD ab. Die Öko-Partei setzt vor allem auf die Job-Potentiale, die in ökologischer Modernisierung liegen: in der Energiewende, in Umwelt- und Weißen Biotechnologien und in der Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Politiker der Grünen wiesen wiederholt darauf hin, dass heute bereits 1,5 Millionen Arbeitsplätze vom Umweltbereich abhängen. Claudia Roth wandte sich in diesem Kontext gegen „Gen-Abenteuer“ und betonte: „Nicht alles, was machbar ist, darf auch gemacht werden.“ Das sei nicht altmodisch, sondern verantwortliche Technikfolgenabschätzung.

Bundesumweltminister Jürgen Trittin sagte, dass vor allem die Energiewende wirtschaftliche Dynamik durch ökologische Innovation bringe und die Abhängigkeit vom Erdöl senke. Um das Ziel, „weg von Öl und Atom“ zu kommen, zu erreichen, streben Die Grünen bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 25 Prozent für erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe an. Jürgen Trittin unterstrich, dass Die Grünen auf die „drei E’s“ setzen würden: Erneuerbare Energien, Energieeinsparung, Energieeffizienz. Scharf kritisierte er die Pläne der Atomlobby und der Unionsparteien, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern oder gar deren Neubau ins Auge zu fassen, und fragte: „Was, Frau Merkel, ist nachhaltig daran, die Menge des Atommülls zu verdoppeln?“

Jürgen Trittin geißelte die Unionsparteien, weil sie die Förderung erneuerbarer Energien zurückdrehen wollen. Dies würde Tausende von Arbeitsplätzen vernichten. Und die bisherige nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn erklärte, in Nordrhein-Westfalen könne man bereits jetzt sehen, was die CDU auf umweltpolitischem Gebiet auf Bundesebene vorhabe: Einführung der Gen-Technik auf der einen Seite und Aufbau bürokratischer Hürden für erneuerbare Energien auf der anderen Seite. Mit dem Blick auf Politiker der CDU und der FDP, aber auch der SPD, die in der jüngsten Zeit versucht hatten, das Eintreten für Belange des Umweltschutzes lächerlich zu machen oder als Hindernis für die Schaffung neuer Arbeitsplätze darzustellen, prophezeite Jürgen Trittin ganz im Stil der Urgrünen der 70er Jahre: „Wenn die letzte Mopsfledermaus vertrieben ist und der letzte Hamster platt gemacht wurde, wird kein einziger Arbeitsplatz mehr entstanden sein.“

Grüne und PDS bzw. Linkspartei

Auf der Berliner BDK der Grünen spielte die Auseinandersetzung mit der PDS und der sich abzeichnenden neuen Linksformation eine weit größere Rolle, als das im vergangenen Jahrzehnt auf grünen Parteitagen insgesamt der Fall war. Parteichef Reinhard Bütikofer definierte strategisch CDU/CSU und FDP als Hauptgegner auf der Rechten und PDS/WASG als Gegner auf der Linken. Schwarz-Gelb organisiere mit seinen Umbauplänen für die Republik einen Feldzug gegen Gerechtigkeit. Die Grünen stünden für Gerechtigkeit und Reformen. Die „Linkspopulisten“ der „PDS-ML“ – der PDS mit Lafontaine – würden dagegen „unter der Fahne der Gerechtigkeit“ gegen notwendige Reformen zu Felde ziehen.

Der Begriff „PDS-ML“ soll offensichtlich eine Nähe der neuen Linksformation zu jenen maoistischen Politsekten der 70er Jahre assoziieren, die sich vor allem durch linksradikale, unrealistische Forderungen hervorgetan hatten. Der Berliner Landesvorsitzende Till Heyer-Stuffer behauptete, gerade in der Hauptstadt könne man studieren, was von den radikalen Forderungen der PDS in der Praxis übrig bleibe: Im Wahlkampf 2001 sei Gregor Gysi dafür eingetreten, die Ausgaben für Wissenschaft, Bildung und Kultur zu erhöhen; in der Praxis der PDS-Regierungsbeteiligung gebe es jedoch in diesen Bereichen massive Kürzungen.

Parteichefin Claudia kündigte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der PDS bzw. mit der neuen Linkspartei an. Das betreffe zum einen die Umweltpolitik; wo das Linksbündnis Ökonomie gegen Ökologie ausspielen würde. Das betreffe zum anderen die Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, wo Gerechtigkeit auf Verteilungsgerechtigkeit verengt werde. Mit den Rezepten der 70er Jahre ließen sich aber die gegenwärtigen und zukünftigen wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen nicht lösen. Der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei warf der PDS vor, sich mit ihrer Ablehnung von UN-Blauhelm-Einsätzen den Verpflichtungen zu verweigern, die aus der Mitgliedschaft Deutschlands in den Vereinten Nationen resultieren.

Spitzenkandidat Oskar Lafontaine wurde von vielen Rednern insbesondere wegen seiner „Fremdarbeiter“-Äußerung in seiner Rede in Chemnitz attackiert, mit der er dumpfe nationalistische Stimmungen mobilisiert und versucht habe, Wähler vom rechten Rand auf populistische Weise für die neue Linksformation zu gewinnen. Joschka Fischer forderte in diesem Zusammenhang seine Partei auf: „Wir sollten unsere Arme weit offen halten für Wähler und Mitglieder der PDS im Osten, die denselben Brechreiz verspüren wie ich bei den rechtspopulistischen Äußerungen von Oskar Lafontaine.“

Lafontaine wurde aber auch angegriffen, weil er sich zustimmend zu den Plänen von Bundesinnenminister Otto Schily geäußert hatte, Lager für Asylsuchende in Nordafrika einzurichten, und weil er die Androhung von Folter im Falle von Kindesentführungen gerechtfertigt hatte. Der frühere SPD-Vorsitzende habe – so die Schlussfolgerung – mit Bürgerrechten nicht viel am Hut.

Zum einen zeigt sich hier, wie man sich mit solch fragwürdigen Äußerungen selbst ein Bein stellen kann. [3] Zum anderen sind die Angriffe auf die Person Lafontaine stark überzogen – insbesondere dann, wenn man sie mit Äußerungen anderer Politiker des viel zitierten demokratischen Spektrums (wie Otto Schily, Günther Beckstein und anderen) zu diesen Themen vergleicht. [4] Die Attacken auf die PDS bzw. auf das Linksbündnis sind schließlich nicht zu erklären ohne die wachsende Attraktivität der im Entstehen begriffenen Linksformation und ohne die Gefahr, die Die Grünen in dieser Linksformation für ihren Platz im Parteienspektrum der Bundesrepublik erblicken.

* * *

Zusammenfassend kann man insbesondere die folgenden vier Punkte festhalten:

Erstens wurde auf der BDK deutlich, dass Die Grünen die Macht-Perspektive verloren haben. Auch wenn Joschka Fischer seine Partei darauf einschwor, mit dem Blick auf den 18. September 2005 Wahlkampf zu führen und nicht auf den 19. September, auf die Zeit nach dem Wahltag, zu schauen, haben Die Grünen begonnen, sich auf die Opposition einzustellen. Exemplarisch dafür stehen die Beschlüsse zur Mehrwertsteuer, zum Spitzensteuersatz und zum Renteneintrittsalter. Nicht nur dadurch hat das Wahlprogramm einen deutlich linkeren Touch erhalten als vorangegangene programmatische Papiere der Partei.

Zweitens räumen Die Grünen dem Komplex Arbeit – Wirtschaft – Soziales in ihrem Programm und im Bundestagswahlkampf erstmals höchste Priorität ein und verweisen die Ökologie auf den zweiten Platz. Parteichef Reinhard Bütikofer hob auf der BDK hervor, die Parteispitze habe den Komplex Arbeit – Wirtschaft – Soziales bewusst an die erste Stelle gesetzt, und erinnerte an das verfehlte Wahlkampf-Motto von 1990.[5] Man müsse das in den Vordergrund stellen, was die Wähler brennend interessiere. Indirekt gestand die Führungsriege der Partei damit ein, der Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik bisher einen zu geringen Stellenwert eingeräumt zu haben.

Drittens verknüpfen Die Grünen ihr Kernthema Ökologie mit Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und versuchen zu verdeutlichen, dass die Arbeitsplatzpotentiale der Zukunft in einer ökologischen Modernisierung der Wirtschaft liegen (Energiewende, Umwelt- und Biotechnologien, Nutzung nachwachsender Rohstoffe). Damit wollen Die Grünen zugleich gegen das Negativ-Image ankämpfen, die Öko-Partei würde Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen blockieren.

Viertens geht es den Grünen mit ihren Angriffen auf die PDS bzw. die Linkspartei und insbesondere auf Oskar Lafontaine wegen seiner „Fremdarbeiter“-Äußerung vor allem darum, jene 20 Prozent bisheriger Grün-Wähler, die bei der Bundestagswahl 2005 derzeit beabsichtigen, die neue Linksformation zu wählen, bei der grünen Stange zu halten. Zum anderen hoffen sie, bisherige Stammwähler der PDS zu gewinnen, die sich von Lafontaine’schen Positionen zu Menschenrechtsfragen (Auffanglager für Asylsuchende in Nordafrika, Rechtfertigung der Androhung von Folter bei Kindesentführungen usw.) abgestoßen fühlen. Die PDS bzw. die neue Linkspartei wäre gut beraten, (a) das Problemfeld Ökologie/Nachhaltigkeit im Wahlprogramm und im Wahlkampf zu thematisieren und dabei an die jüngst vom BUND attestierte Kompetenz der früheren PDS-Bundestagsfraktion, der Ökologischen Plattform sowie des Umweltministers in Mecklenburg-Vorpommern anzuknüpfen und (b) die bürgerrechtliche Komponente in der Programmatik der neuen Linksformation zu stärken.


[1] Ein Antrag, Fischer eine Frau zur Seite zu stellen und damit eine Wahlkampf-Doppelspitze zu schaffen, wurde - auch dank wortgewaltiger Gegenrede von Bärbel Höhn, Renate Künast und Claudia Roth - abgelehnt.

[2] Parteichef Bütikofer forderte, "hier eine klare Kante zu ziehen gegen die Union".

[3] Oskar Lafontaine hatte Ende Juni 2005 in einem ND-Interview erklärt: "Ich bin der Meinung, dass wir uns nur noch selbst ein Bein stellen können." (Neues Deutschland, Berlin, 29.06.2005).

[4] Einer Partei, die sich den Kampf um mehr Demokratie und größere Rechte für die Bürgerinnen und Bürger auf ihre Fahnen geschrieben hat, gereichen sie dennoch nicht zur Ehre.

[5] Damals hatten Die Grünen die drohende Klimakatastrophe in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt, während das alles beherrschende Thema die deutsche Einheit war.