Test der Woche 50/2002Zur BDK der Grünen am 7. und 8. Dezember 2002 in Hannover
Es war ein Parteitag der Verlierer, diese 21. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) der Grünen. Die Führungsriege der Partei hatte hoch gepokert - und verloren: Zwar gelang es ihr, auf dem Parteitag eine Urabstimmung der 45.000 Mitglieder der Grünen zur teilweisen Aufhebung der Trennung von (Bundesvorstands-)Amt und (Bundestags-)Mandat durchzusetzen, doch scheiterte sie mit ihrem Wunsch, den entsprechenden Paragraphen der Satzung so lange auszusetzen, bis das Ergebnis der Urabstimmung vorliegt. Ähnlich wie bereits in Bremen wurde die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit für eine solche Satzungsänderung knapp verfehlt - diesmal um ganze acht Stimmen. Claudia Roth und Fritz Kuhn, die ihr Bundestagsmandat behalten wollten, konnten so nicht erneut zur Wahl als Bundesvorsitzende der Öko-Partei antreten.
Die Führungskrise, in der sich die Grünen nun erst recht befinden, äußert sich nicht nur in der Wahl eines neuen Bundesvorstandes, der von der Mehrheit der Partei und ihren Delegierten lediglich als "Vorstand zweiter Wahl" angesehen wird - galten doch Claudia Roth und Fritz Kuhn als "Dream-Team" der Grünen. Das Debakel von Bremen, das sich nun in Hannover wiederholte, offenbart auch ein gehöriges Maß an Realitätsverlust der grünen Führung. Sie hatte den Unmut der Basis unterschätzt, die sich nicht mit einer Lex Roth-Kuhn erpressen lassen wollte. Und das waren weit mehr Delegierte als jene, die sich bei ihrer Ablehnung vor allem von basisdemokratischen Beweggründen leiten ließen. Schlimmer noch: Die grüne Führung hatte ganz offensichtlich kein Szenario für den Fall entwickelt, dass die gewünschte Satzungsänderung nicht durchsetzbar ist, so dass nach der Abstimmungsniederlage in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag erst der Parteirat nach einem Ausweg aus der verfahrenen Situation suchen musste. Auf die hochgelobte Professionalität der grünen Führungsriege, auf ihre Fähigkeiten zum Krisenmanagement fällt so in ein katastrophales Schlaglicht.
Es war aber auch deshalb ein Parteitag der Verlierer, weil jene Sperrminorität der Delegierten, die Roth und Kuhn als Parteispitze köpfte, als "Gralshüterin" urgrüner Prinzipien genau besehen einen Pyrrhussieg errungen hat. Ihr Ziel war es ja, politische Macht zu kontrollieren, Ämterhäufung und damit Machtballung in wenigen Händen zu verhindern. Die praktische Auswirkung der Entscheidung ist aber eher gegenteilig. Der durch den erfolgreich geführten Bundestagswahlkampf und die erbrachte Integrationsleistung starke Bundesvorstand mit Roth und Kuhn ist durch eine geschwächte Parteispitze ersetzt worden, die sich das Vertrauen der Mehrheit erst durch harte Arbeit neu erwerben muss. Das Macht- und Entscheidungszentrum der Grünen hat sich damit wieder stärker vom Bundesvorstand hin zur Bundestagsfraktion und zur Regierung verlagert. Da auch die Spitze der grünen Bundestagsfraktion neu besetzt worden war, sind es nun die grünen Minister, die ihre mehrjährigen Erfahrungen bei allen wichtigen politischen Entscheidungen, die in der nächsten Zeit zu treffen sind, zum Tragen bringen können. Objektiv ist mit dem Hannoveraner Parteitag Joschka Fischers Rolle als "heimlicher Parteivorsitzender" der Grünen gestärkt worden.
Es war ein Parteitag der Verlierer, weil die grüne Partei insgesamt in der Öffentlichkeit einen Imageverlust hinnehmen musste. Statt die politischen Inhalte grüner Politik erfolgreich in die Medienöffentlichkeit zu transportieren, hat die BDK dazu beigetragen, dass das Bild einer durch innere Krisenerscheinungen gelähmten Partei die öffentliche Wahrnehmung dominiert. Dass die Grünen ihre ablehnende Haltung zu einem Krieg gegen den Irak bekräftigt haben, dass sie sich mit der Reform des Arbeitsmarktes und mit der Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme befassten oder dass sie eine Aussetzung der Diäten-Erhöhung der Bundestagsabgeordneten fordern, verschwindet hinter der Folie von grüner Kleinkrämerei und zumindest partieller Politikunfähigkeit. Dies schwächt sie nicht zuletzt auch als Koalitionspartner der SPD.
Es war aber auch in ganz anderem Sinne ein Parteitag der Verlierer: Es war die Stunde von Angelika Beer und Reinhard Bütikofer, den neu gewählten Bundesvorsitzenden der Grünen, und von Steffi Lemke, die erfolgreich die Konkurrenz bei der Bewerbung um das Amt der Politischen Geschäftsführerin der Öko-Partei hinter sich ließ. Dabei drohten alle drei bereits in der politischen Versenkung zu verschwinden. Beer scheiterte bei der Aufstellung der KandidatInnen zur Bundestagswahl 2002 auf dem Landesparteitag der Grünen in Schleswig-Holstein an der Hürde einer Zwei-Drittel-Mehrheit, die für eine dritte Legislaturperiode im Bundestag aufgerichtet worden war. Bütikofer hatte mehrfach versucht, seine Vorstellungen von politischer Arbeit gegen die von Fritz Kuhn und Joschka Fischer durchzusetzen, und hätte bei einer Wiederwahl Kuhns zum Bundesvorsitzenden sein Amt als Politischer Geschäftsführer der Partei aufgeben müssen. Lemke, von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordnete, war von der langjährigen sachsen-anhaltischen Landesvorsitzenden Undine Kurth weggebissen worden und hatte keinen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste zur Bundestagswahl bekommen.
Alle drei haben in Hannover eine neue Chance erhalten. Ob sie diese nutzen können ist zumindest offen. Der von ihnen gebildete Vorstand wird lediglich als "Übergangslösung" und als "Notgeburt" gehandelt, obwohl die drei keineswegs politische Frischlinge sind: Der Realo und Pragmatiker Bütikofer hat das Amt des Politischen Geschäftsführers der Grünen seit 1998 ausgeübt. Die ursprünglich zur Regierungslinken gezählte Angelika Beer amtierte von 1998 bis 2002 als Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Verteidigung. Die der Parteilinken zugerechnete Steffi Lemke war von 1998 bis 2002 Parlamentarische Geschäftsführerin der grünen Bundestagsfraktion. Alle drei Bundesvorstandsmitglieder dürften also genügend Professionalität mitbringen, um zusammen mit dem im Amt bestätigten Bundesschatzmeister Dietmar Strehl ihre neue Funktion adäquat auszuüben. Der Ausgang der bevorstehenden Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen Anfang 2003 und der Wahl zum Europäischen Parlament Mitte 2004 wird über das politische Schicksal des neuen Grünen-Vorstands entscheiden, zumal sie erklärt haben, dass die Vorbereitung der Partei auf diese Ereignisse die Schwerpunkte ihrer künftigen Arbeit sein werden.
Um nicht nach der Europawahl erneut einen "Parteitag der Verlierer" zelebrieren zu müssen, werden die Grünen gut beraten sein, mehr als die halbe Stunde aufzubringen, die sie in Hannover dem Thema Europa widmeten. Zumal sie zu fürchten haben, dass die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die EU und die damit verbundene Neuverteilung der Sitze im Europäischen Parlament zu einer Schwächung der Grünen im europäischen Kontext führt, wenn es ihnen nicht gelingt, deutlich besser abzuschneiden als 1999, wenn nicht in südlichen Mitgliedsstaaten die traditionellen Schwächen überwunden und in den Beitrittsländern starke grüne Kandidaturen aufgebaut werden können.
Der für die französischen Grünen im Europa-Parlament sitzende Daniel Cohn-Bendit verwies auf der BDK in einer kämpferischen Rede darauf, dass mit der Europawahl 2004 eine politische Weichenstellung stattfinde, die für die Grünen in Europa sehr weitreichende Bedeutung haben werde. Zum ersten Mal würden bis zu zehn Beitrittsländer an einer Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen, was die parteipolitische Gewichtung innerhalb der Europäischen Union verschieben werde. Die Europawahl werde zugleich direkt oder indirekt zu einem Volksentscheid über die neue europäische Verfassung werden. Die Grünen, erklärte Cohn-Bendit, streben an, zu dieser Wahl mit einer grünen Europa-Partei anzutreten, möglichst mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten. Daher soll Anfang 2004 auf einem Kongress der Europäischen Föderation Grüner Parteien (EFGP) in Rom die Europäische Grüne Partei gegründet werden. Der alte Weggefährte Joschka Fischers verlangte, die Europäische Grüne Partei müsse mehr sein als die Summe von 25 grünen Parteien. Sie müsse vielmehr zu gemeinsamen europäischen Positionen finden.
Mit der Europawahl - so heißt es in der dazu verabschiedeten Resolution der BDK in Hannover - werde eine Entscheidung über die Richtung der europäischen Politik getroffen: Für eine europäische Verantwortung für globale Gerechtigkeit oder für stärkere Abschottung und alte Wachstumspolitik. Für (multi)kulturelle Vielfalt und Schutz von Minderheiten oder für Xenophobie und Ressentiments. Für ein föderales und ökologisches Europa mit gestärkter Demokratie oder für eine große Freihandelszone ohne ausreichende politische Kontrolle.
Daher soll die Wahlkampagne 2004 zusammen mit den anderen grünen Partnern als gemeinsame EU-weite Europa-grüne Kampagne geführt werden. Geplant sei eine gemeinsame Erklärung aller europäischen grünen Parteien, die als gemeinsame Präambel aller grünen Wahlprogramme dienen soll. Die Chance, die der Nizza-Vertrag mit der Option biete, auf EU-Ebene wirkliche politische Parteien zu formieren, solle genutzt werden, um innerhalb einer gemeinsamen europäischen grünen Partei die Zusammenarbeit zu intensivieren.
Bei der Schaffung europäischer grüner Parteistrukturen sind die Grünen mit der Europäischen Föderation Grüner Parteien ihrer linkssozialistischen Konkurrenz allerdings einen wesentlichen Schritt voraus. Die PDS und ihre politischen Partner in der Europäischen Union und in den Beitrittsländern müssen sich sputen, um den Zug der Zeit nicht zu verpassen.
Berlin, im Dezember 2002