Vorwort
Rosa Luxemburg hat anlässlich der russischen Revolution von 1905 voller Hoffnung einen energischen Appell an die polnischen Priester gerichtet, den Aufstand der Unterdrückten gegen den Zaren nicht zu verteufeln, sondern zu unterstützen. Mit ausführlichen Bibelzitaten und Argumenten früher Kirchenväter hat sie kenntnisreich
begründet, dass in den ersten Jahrhunderten die Jesus-Gemeinden eindeutig auf der Seite der Armen standen. „Kirche und Sozialismus“ hat sie ihre Ausführungen genannt:
„ … es vergingen 500 Jahre nach Christi Geburt als noch Aufrufe wie der von Gregor dem Großen zu hören waren: es genügt nicht anderen ihr Eigentum nicht wegzunehmen, ihr seid nicht ohne Schuld, wenn ihr Güter für Euch allein behaltet, die Gott für alle Geschaffen hat. Wer anderen nicht das gibt, was er selbst besitzt ist ein Räuber und Mörder, denn wenn er für sich behält, was zum Unterhalt der Armen dient, so kann man sagen, dass er Tag für Tag so viele ermordet, wie von seinem Überfluss leben könnten…“
Eine „Stimme der Armen“ ist heute die „Theologie der Befreiung“, deren Option für die Armen gesehen werden, verbunden mit der Forderung, die historisch gegebene, durch
zunehmende Machtasymmetrien in Politik, Kultur, Produktion und vor allem bei der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum von Grund auf neu zu gestalten, und zwar vom Standpunkt der Opfer der bisherigen hegemonialen Geschichte aus. Gerade deshalb organisiert die Stiftung auch regelmäßig Gespräche auf Kirchentagen mit Frauen und Männern, die weltweit mit der „Theologie der Befreiung“ ihre Kirche herausfordern, z.B. die revolutionären Forderungen des Propheten Jesaja, in gesellschaftliches Handeln umzusetzen: „Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit / sprenge die Bande der Gewalt / gib frei die Misshandelten / jedes Joch sollt ihr zertrümmern / brich dem Hungrigen dein Brot - / die Obdachlosen führe in dein Haus / … entzieh dich nicht deinen Brüdern, dann wird dein Licht hervorbrechen wie Morgenröte / deine Heilung wird schnell wachsen / deine Gerechtigkeit wird vor dir her gehen / und die Herrlichkeit des Herrn Dir folgen … (aus Jesaja 58).
Dorothee Sölle († 2003), die wohl bekannteste Theologin, die zu einer überzeugenden Vertreterin der Theologie der Befreiung in Deutschland geworden ist, forderte auch auf
Kirchentagen eine kompromisslose „Konversion zum Leben“ „… in Wirklichkeit leben wir bereits jetzt in einem grauenvollen Krieg, dem Krieg der Reichen gegen die Armen,
ein Krieg, der mit wirtschaftlichen Mitteln geführt wird und militärisch abgesichert wird. Jeden Tag fallen Tausende in diesem Krieg. Sie sterben an Hunger und anderen durchaus heilbaren Krankheiten: die Bomben fallen jetzt, die Aufrüstung ist nicht die Vorbereitung auf einen militärischen Konflikt in der Zukunft, sondern sie ist der Krieg …“
Seit 2001 hat sich unsere Stiftung mit Beiträgen aus der Perspektive einer „Theologie der Befreiung“ an Evangelischen und Ökumenischen Kirchentagen beteiligt. Ein für uns weiterweisendes Kolloquium veranstalteten wir auf dem Evangelischen Kirchentag 2009 in Bremen u. a. mit Dr. Jan Rehmann, Philosoph (New York), Prof. Dr. Dick Boer, Theologe (Niederlande), Dr. Hartmut Drewes, Pastor (Bremen), Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann, Philosoph (Senftenberg), Jürgen Klute, Sozialpfarrer, MEP, (Herne), Bodo Ramelow, MdB (Thüringen) und Dr. Michael Ramminger, Theologe (Münster). Dieses Gespräch bewies uns, dass die Prämissen für einen solchen Dialog vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen dringlich neu bedacht werden müssen:
- Kann Religionskritik konstruktiv weitergedacht werden, so dass sie nicht länger nur Konfrontation mit Religionen ist, sondern sich konkret mit herrschaftsstützenden Strukturen von Religionen auseinandersetzt?
- Gibt es Berührungspunkte, die es ermöglichen, dass sich religiöse Bewegungen von linker Kapitalismuskritik und Transformationsstrategien inspirieren lassen? Im Kontext gemeinsamer Herausforderung könnten dann auch beiderseits belastende Konflikte und Missverständnisse zur Sprache gebracht werden.
- Wie können sich angesichts der dramatischen Weltsituation von Wirtschaftskriegenund sozialer Ausplünderung linke Religionskritik und Theologie der Befreiungfruchtbar ergänzen?
Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung gehören weltanschauliche Diskurse zu den Voraussetzungen einer breitestmöglichen Allianz gegen Neoliberalismus und Krieg. Das bedingt zugleich einen konstruktiv-kritischen Umgang mit der Geschichte des weltanschaulichen Dialogs unter Linken, aber auch die Einbeziehung der vielfältigen Erfahrungen gemeinsamen Engagements von Christen, Marxisten und Sozialisten. Wir verbinden dies mit aktuellen Fragen heutiger Auseinandersetzungen und der Suche nach Gemeinsamkeiten für gesellschaftliche Alternativen.
Wir hoffen deshalb, dass die Aufsätze dieser Publikation, die wir auf dem zweiten Ökumenischen Kirchentag gern zur Diskussion stellen, zur „Konversion zum Leben“ beitragen, zu einem Richtungswechsel der Politik für eine solidarische Gesellschaft, in der Menschen in Würde und sozialer Sicherheit solidarisch leben lernen.
Ilsegret Fink Cornelia Hildebrandt
Berlin, April 2010
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