Die deutschen Grünen könnten den nächsten Bundeskanzler stellen und die europäischen Grünen so stark wie nie ins Europa-Parlament einziehen. Davon zeigte sich Jesse Klaver, Vorsitzender der niederländischen Partei GroenLinks, überzeugt und verwies auf die guten Umfragewerte für Bündnis 90/Die Grünen und auf ihren derzeit zweiten Platz im deutschen Parteien-Ranking.[1] Der Beifall der rund 500 Teilnehmer am jüngsten Council Meeting der European Green Party (EGP) war ihm dafür sicher. Angesichts von grünen Wahlerfolgen nicht nur in Bayern und Hessen, sondern auch in Belgien und Luxemburg war von einer «grünen Welle der Hoffnung»[2] in Europa die Rede.
Erstmals seit 2002 fand wieder ein Council Meeting der European Greens in Deutschland statt: Der Rat, das höchste Organ der EGP, tagte vom 23. bis zum 25. November 2018 in Berlin. Die EGP umfasst heute als Vollmitglieder 37 Mitgliedsparteien in 33 Staaten Europas innerhalb und außerhalb der Europäischen Union (EU) – von Irland bis Georgien und von Portugal bis Finnland. Dazu kommen vier assoziierte Mitglieder und drei Parteien mit Kandidaten-Status.
Im Zentrum der Ratstagung standen die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019. Die Delegierten debattierten und beschlossen das Wahl-Manifest der EGP und wählten mit Ska Keller von Bündnis 90/Die Grünen und Bas Eickhout von der niederländischen Partei GroenLinks die europäischen Spitzenkandidaten der Grünen. Nicht zuletzt sollte das Council Meeting für den nötigen Schwung und die richtige Aufbruch-Stimmung in den grünen Parteien sorgen.
Die Diskussionsbeiträge und Reden der Repräsentanten der europäischen grünen Parteien in den Plenarsitzungen thematisierten immer wieder die Notwendigkeit, dem sich vollziehenden Klimawandel zu begegnen. Übereinstimmung bestand darin, dass der Klimawandel nicht auf der nationalen Ebene, sondern nur global bekämpft werden könne. Die europäische Industrie müsse ökologisch transformiert werden. Yannick Jadot, Europa-Abgeordneter der französischen Partei Europe Ecologie – Les Verts (EELV), erklärte: «Der Kampf gegen den Klimawandel ist der Kern unseres Programms.»
Ein zweiter Schwerpunkt in den Reden und Diskussionsbeiträgen war die Verknüpfung von europäischer Steuer- und Finanzpolitik mit der Sozialpolitik. Mehrere Redner betonten, dass europäische Solidarität bedeute, dass nach dem Brexit die stärkeren EU-Staaten mehr Geld in die EU-Kassen einzahlen müssten als bisher. Andere wie der Co-Vorsitzende der irischen grünen Partei Comhaontas Glas, Eamon Ryan, plädierten für die Einführung einer die Industrie belastenden europäischen CO2-Steuer, um einerseits eine Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels zu geben und andererseits die nötigen Finanzmittel zu haben, um eine ökologische Transformation der EU mit sozialer Absicherung bezahlen zu können. Zudem müssten Steueroasen ausgetrocknet und Steuerhinterziehung und Steuerdumping bekämpft werden. Der niederländische Europa-Abgeordnete Bas Eickhout von GroenLinks erklärte: «Es ist Zeit für Veränderung.» Zu lange hätten multinationale Konzerne Europa im Griff gehabt und Profit und Wachstum über alles andere gestellt. Das sei auf Kosten eines sozialen Europa gegangen, eines Europa, das in seine Menschen investiert und jedermanns Teilhabe begrüßt. Notwendig sei ein Europa, das für die Menschen sorgt und nicht für die multinationalen Unternehmen. Und Jesse Klaver ergänzte: «Wir Grüne wollen die EU verändern – von der EU der großen Konzerne zur EU der Menschen.»
Ein dritter Focus lag auf der Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte gegen den immer stärker werdenden Rechtspopulismus, den Autoritarismus und die Fremdenfeindlichkeit in Europa. Die Co-Vorsitzende der EGP, Monica Frassoni, sah die europäischen Grünen als Vorhut im Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Angesichts des Erstarkens nationalistischer Kräfte in Europa warnte die Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock, wir stünden vor der Entscheidung, ob wir uns zurückziehen in unsere nationalen Grenzen oder ob wir vorangehen als Europäer, und warb für ein Europa der sozialen Sicherheit und des Umweltschutzes als zwei Seiten einer Medaille. Ska Keller, die Co-Vorsitzende der Fraktion Greens/European Free Alliance im Europa-Parlament, betonte, dass der EGP bei der Europawahl eine große Verantwortung zukomme, denn Europa werde von rechten Kräften herausgefordert, die eine Rückkehr zum Nationalismus anstrebten und bürgerliche Freiheiten und Demokratie einschränken wollten. Angesichts dessen – so Keller – gelte es, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen.
Bei wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen nahmen die Delegierten sowohl das Wahl-Manifest der EGP «Zeit, das Versprechen von Europa zu erneuern» als auch das darauf beruhende Dokument «Prioritäten der EGP für 2019: Wofür die Europäischen Grünen kämpfen» an, in dem zwölf Schwerpunkte herausgestellt werden, mit denen die europäischen Grünen den Europa-Wahlkampf bestreiten wollen: (1) durch den Ausstieg aus der Kohle, durch die Förderung der Energie-Effizienz und durch das Hinbewegen zu 100 Prozent Erneuerbaren Energien den Klimawandel bekämpfen, (2) in eine Grüne Ökonomie, Forschung und Innovation investieren, (3) ein anständiges Mindesteinkommen in den Mitgliedsstaaten der EU garantieren, (4) die Herrschaft des Rechts und die Grundrechte verteidigen, Transparenz erhöhen und Korruption bekämpfen, (5) das Recht auf Asyl verteidigen und legale und sichere (Flucht-)Wege für Migration schaffen, (6) Züge in Europa zu einer wirklichen Alternative zu Flugzeugen machen, (7) die Gesundheit unserer Bürger durch die Bekämpfung von Luft- und Wasserverschmutzung und durch den Stopp von Plastik-Müll schützen, (8) Waren lokal und Nahrung gentechnisch- und pestizidfrei produzieren und Landwirtschaft ohne Tierquälerei betreiben, (9) freien Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung, fair bezahlte Praktika und gute Jobs für junge Menschen garantieren, (10) für sofortige Steuergerechtigkeit kämpfen, (11) für ein feministisches Europa, gegen geschlechtsspezifische Gewalt und für gleiche Rechte für alle kämpfen und (12) Waffenexporte an Diktatoren und kriegführende Staaten ablehnen und Entwicklung fördern.[3]
Zu dem 13 Seiten umfassenden Entwurf des Manifests gab es 193 Änderungsanträge, zum dreiseitigen Prioritäten-Papier waren 99 Änderungsanträge gestellt worden. Eine Reihe der Änderungsanträge wurde von der Antragskommission übernommen, andere von den Antragstellern zurückgezogen – einige erst in der Abstimmungssitzung, als absehbar war, dass sie keine Aussicht hatten, angenommen zu werden. Vielfach wurden Kompromisse gefunden, so dass am Ende relativ wenige Anträge abgestimmt werden mussten.
Die Änderungsanträge offenbarten zum Teil tiefgehende Differenzen zwischen den Mitgliedsparteien, insbesondere in der Frage der angestrebten weiteren Entwicklung der Europäischen Union und in der Flüchtlingsfrage. Vor allem die schwedische Miljøpartiet De Grønne (MP) zeigte sich wenig geneigt, Schritte zur weiteren Vertiefung der europäischen Integration mitzugehen – ein Reflex auf die euroskeptische Haltung der schwedischen Bevölkerung und ihrer eigenen Klientel. Ihr Vertreter in der Antragssitzung, der Europa-Abgeordnete Max Andersson, trat immer wieder auf die Bremse, wenn im Entwurf des Manifests oder in dem des Prioritäten-Papiers beabsichtigt wurde, derartige Schritte zu gehen.
Die MP-Vertreter beantragten beispielsweise, die Worte «volle supranationale» in dem Satz «Der institutionelle Rahmen der EU muss weiterentwickelt werden zu einer vollen supranationalen Demokratie […].» zu streichen, weil sie einen europäischen supranationalen Staat ablehnen. Er wäre zu zentralisiert und demokratisch fragil. Die Delegierten der MP lehnten die Einführung einer «europäischen Arbeitslosenversicherung» mit dem Argument ab, eine solche Versicherung wäre als Transfer-Union zwar gut für die Eurozone, jedoch sehr schlecht für Nicht-Mitglieder dieser Zone wie Schweden. Max Andersson wandte sich gegen die Einführung einer «europäischen Digitalsteuerx und schlug als Kompromiss die Einführung einer «Digitalsteuer in Europax vor, was die Möglichkeit eines Vorgehens auf nationaler Ebene implizieren würde. Schließlich forderten die Delegierten der MP und der niederländischen Partei GroenLinks die Streichung des Satzes «Wir unterstützen eine föderale Zukunft für Europa.», weil die Idee des Föderalismus nicht von allen Mitgliedern der EGP unterstützt werde, und konnten damit in der Abstimmungssitzung des Council Meetings mit 56,4 Prozent der Delegierten-Stimmen eine knappe, aber sichere Mehrheit erzielen.
Auch im Agieren anderer grüner Parteien schlug sich die politische Stimmung im jeweiligen Heimatland nieder. Der Delegierte der maltesischen grünen Partei Alternattiva Demokratika verlas noch in der Abstimmungssitzung eine Erklärung, dass seine Partei kein Dokument unterstützen könne, in dem das Recht auf Abtreibung gefordert werde. Die ungarische grüne Partei Lehet Más a Politika (LMP) trug den xenophoben Haltungen in der Bevölkerung Ungarns Rechnung, auf der Victor Orbán und seine Regierung ihre migrationsfeindliche Politik betreiben. Sie stellte den Antrag, den in Bezug zur Flüchtlingsfrage stehenden Satz «Das Errichten von Mauern ist keine Option.» zu streichen. Die LMP-Vertreter wollten einen Passus in das Wahl-Manifest mit der Aussage einfügen, dass die «globale Migrationskrise, die Europa 2015 erreichte, als negatives Phänomen zu betrachten ist». Die LMP glaube, dass illegale Migration gestoppt, die Außengrenzen der EU geschützt werden und die Immigrationspolitik in der nationalen Kompetenz bleiben müsse. Eine Position, die von der großen Mehrheit der Delegierten auf dem EGP-Council Meeting abgelehnt wurde.
Das Wahl-Manifest[4] untersetzt die grüne Vision für ein gerechteres Europa, das auf Nachhaltigkeit, sozialer Inklusion, Fairness, grüner Transformation, starker Demokratie, der Herrschaft des Rechts und auf Frieden beruht, mit konkreten Maßnahmen. So versprechen die europäischen Grünen, sich dafür einzusetzen, dass die EU – gemäß dem Pariser Klima-Abkommen – alle ihr möglichen Anstrengungen unternimmt, um den Temperaturanstieg auf bis zu 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Sie fordern ein europäisches Klimagesetz, um die CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken. Um die Klima-Ziele zu erreichen, müssten die EU-Staaten bis 2030 aus der Kohle und so bald als möglich danach aus anderen fossilen Energien (einschließlich Gas) aussteigen. Nuklear-Energie und Fracking dürften in einer sauberen Energie-Zukunft keine Rolle spielen. Der Energie-Übergang zu 100 Prozent Erneuerbarer Energie werde die Verschmutzung verringern, Jobs schaffen und die Unabhängigkeit in Energie-Fragen erhöhen.
Die EGP plädiert für eine Reform der EU, um sie zukunftsfähig zu machen. Die EU müsse transparenter, demokratischer, effektiver und effizienter werden. Sie müsse zu einer «vollen supranationalen Demokratie» entwickelt werden, in der öffentliche Entscheidungen transparent durch gewählte und politisch verantwortliche Repräsentanten getroffen werden. Die Opposition einer Handvoll Mitgliedstaaten sollte nicht verhindern, dass die große Mehrheit der Staaten voranschreitet. Daher sollte das Einstimmigkeitsprinzip durch das normale legislative Prozedere ersetzt werden. Das Europäische Parlament müsse die Macht haben, Gesetze zu initiieren und seine Mitentscheidungs- und Prüfungs-Rechte auf allen Gebieten zu nutzen. Es müssten weitere Schritte hin zu einer «immer engeren Union» («ever closer Union») gegangen werden. Die europäischen Grünen unterstützen eine demokratische Zukunft Europas, wo regionale und nationale Spezifika und die allgemeinen Interessen der EU gleichermaßen repräsentiert sind. Daher treten sie für ein System ein, in dem das Europäische Parlament, das die EU-Bürger insgesamt repräsentieren und zum Teil über transnationale Listen gewählt werden soll, die Gesetzgebungsfunktion gemeinsam mit einer Kammer ausübt, die die Mitgliedstaaten repräsentiert.
Zieht man eine Bilanz des 29. Council Meetings der European Green Party, lassen sich folgende Punkte hervorheben:
Erstens präsentierte sich die EGP auf ihrer Ratstagung insgesamt geschlossen und handlungsfähig. Der Führung der EGP gelang es, die Vertreter der europäischen grünen Parteien erfolgreich auf den Europa-Wahlkampf einzustimmen. Mit dem Focus auf den Kampf gegen den Klimawandel, dem Eintreten für ein soziales Europa und der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten gegen wachsenden Rechtspopulismus, Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit kann die EGP Weltoffenheit und eine Form von Kosmopolitismus verkörpern, mit der sie in den Zeiten der Trumps, Kaczyńskis oder Orbáns für einen Großteil derjenigen hohe Attraktivität gewinnt, die sich eine «offene Gesellschaft», ein Europa der Toleranz, Vielfalt und Liberalität wünschen.
Zweitens wirkt das Virus des Euroskeptizismus nach wie vor in der europäischen grünen Parteienfamilie. Einige grüne Parteien (namentlich die in Schweden, wo der Euroskeptizismus ohnehin starke Wurzeln hat) stehen der Idee der «ever closer union» ablehnend gegenüber und versuchen, zu EU-freundliche Positionen mit Rücksicht auf die heimische Klientel zu vermeiden.
Drittens diente das Council Meeting der weiteren Vernetzung der europäischen Grünen und zeigte, dass sich die EGP zu einer wirklichen europäischen Partei mit programmatischen Dokumenten, Resolutionen, Anträgen und Abstimmungen, mit Mehrheits- und Minderheitspositionen entwickelt hat – und mit der Fähigkeit, mit diesen Minderheitspositionen umzugehen und deren Vertretern auch nach einer Abstimmungsniederlage weiterhin eine politische Heimat zu geben. Alles in allem ist der Einfluss von Bündnis 90/Die Grünen auf die politische Agenda der EGP unübersehbar.
Jochen Weichold, Berlin im Dezember 2018
[1] In der Tat sahen im November 2018 alle Meinungsumfragen zur sogenannten Sonntagsfrage Die Grünen auf Platz 2 nach der Union auf Platz 1 und vor der SPD bzw. der AfD auf Platz 3. Bei Forsa lag am 24. November 2018 die Union nur noch vier Prozentpunkte vor den Grünen. Vgl. Sonntagsfrage Bundestagswahl. URL: http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm (abgerufen am 25.11.2018).
[2] Vgl. European Greens: A Green wave of hope. Press Release, Brussels, 15 October 2018. URL: https://europeangreens.eu/content/green-wave-hope (abgerufen am 27.11.2018).
[3] Vgl. Adopted – EGP Priorities for 2019: What European Greens Fight For. URL: https://europeangreens.eu/sites/europeangreens.eu/files/9.%20PROOFREAD%20%20Adopted%20EGP%20priorities%20for%202019_rev%20cf.pdf (abgerufen am 17.12.2018).
[4] Vgl. Adopted EGP Manifesto 2019: Time to renew the promise of Europe. URL: https://europeangreens.eu/sites/europeangreens.eu/files/8.%20PROOFREAD%20Adopted%20%20EGP%20Manifesto%202019.pdf (abgerufen am 17.12.2018).