Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - Gesellschaftliche Alternativen - Demokratischer Sozialismus - 30 Jahre 89/90 - Sozialismus «Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat»

Hat der Sozialismus trotz seines epochalen Scheiterns eine Zukunft?

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Tom Strohschneider
Tom Strohschneider Foto: Camay Sungu

Vor 30 Jahren endete die Vorgeschichte des Sozialismus in einem epochalen Scheitern. Hat dieser trotzdem eine Zukunft? Auf diese Frage gibt es derzeit zwei gängige Antworten: Selbstbewusst und optimistisch betonen die einen eine Renaissance sozialistischer Politik und verweisen auf populäre Figuren wie die linke US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez. Die anderen erklären in kritischer Absicht und ablehnend jede Politik staatlicher Regulierung oder Eingriffe in Verfügungsrechte über Eigentum zu einem sozialistischen Skandalon.

Tom Strohschneider, Jahrgang 1974, ist Journalist, Historiker und arbeitet in einem Medienkollektiv. Zuletzt hat er herausgegeben «Eduard Bernstein oder: Die Freiheit des Andersdenkenden», das 2019 im Dietz-Verlag erschien.

Rückkehr oder Rückfall – beide Pole wirken bestärkend aufeinander. Wird irgendwo polemisch «Venezuela» gerufen, kontert prompt irgendwer mit einer Kritik am Unvermögen des real existierenden Kapitalismus, die drängenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Alle im globalen Durchschnitt zu verzeichnenden sozialen, ökonomischen, technischen Fortschritte bleiben eben Resultate einer Produktions- und Aneignungsweise, die einen riesigen Teil der Menschheit von den Potenzialen ausschließt, die der Stand der Entwicklung eigentlich bietet. Es geht dabei nicht bloß um materielle Armut in einer ökonomisch so reichen Welt. Es geht um jene Grade an Freiheit, Eigensinn, Sicherheit, die dem Stand des Erreichten entsprächen. Es geht um die Chance, wirklich Mensch sein zu können, und nicht länger «ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen».[1] Oder um es nochmal mit Marx als positiven kategorischen Imperativ zu formulieren: «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.»[2]

Für die meisten bleibt das ein unerreichbarer Traum. Die Realisierung dieses Traums wird nun auch noch durch einen sich radikalisierenden Notstand der gesellschaftlichen Naturverhältnisse infrage gestellt, durch eine Klimakrise, die nicht nur die weltweiten Armen besonders betrifft, sondern inzwischen auch in den Wohnzimmern der global Privilegierten angekommen ist. Angesichts dieser offenkundigen Defizite jener «Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht», angesichts von Problemen also, denen ein totaler Umschlag der gesamten Entwicklungsrichtung als Möglichkeit innewohnt, wird der Sozialismus heute wieder öfter als die einzige Alternative zu einem katastrophischen Szenario gesehen: «… oder Barbarei?»

So logisch dieser Schluss erscheint, so sicher ist die Reaktion der eingangs benannten anderen Seite darauf: die Warnung vor der Wiederkehr autoritärer Verhältnisse. Die Vorgeschichte des Sozialismus, also die unter diesem Namen wirksam gewordenen politischen Realisierungsversuche seit der Wende zum 20. Jahrhundert, so lautet die Pointe dieser Position, habe dessen wahres, ganzes Wesen doch schon gezeigt - die Zukunft des Sozialismus werde nicht anders, nicht besser ausfallen als das, was er schon gewesen ist.

Heftiges Unbehagen, schmerzhafte Einsicht

Seit mindestens 30 Jahren ruft dieser Vorwurf auch unter Leuten, die dem Sozialismus als Idee im Grunde wohlwollend gegenüberstehen, heftiges Unbehagen hervor. Der Drang, darauf mit dem Hinweis zu antworten, der «real existierende» sei nicht der wirkliche oder unter besseren Bedingungen mögliche Sozialismus, ist zwar groß, aber die Einsicht schmerzt trotzdem, dass man selbst ja gar nicht so weit entfernt von dieser Position entfernt ist: Sozialismus, wirklich?

Es hat einen Grund, dass die Geschichte linken Denkens nicht zuletzt eine Geschichte des Hochhaltens von Alternativen zu sich selbst ist. Wo immer unter der Fahne des Sozialismus agiert wurde, fanden Menschen zusammen, die die Politik unter diesem Banner zu kritisieren wichtige Gründe hatten, die Konstruktionsfehler entdeckten, unmenschliche Verzerrungen anprangerten, die sich in Gefahr begaben durch ihre Opposition. Was bedeutet es für die Zukunft, dass die Geschichte des Sozialismus nicht zuletzt eine Geschichte sozialistischer Dissidenz ist?

Wenn wir heute über Sozialismus reden, dann meist mit einem ergänzenden Vornamen, mit einer hinzugefügten Präzisierung, die ihn vom real existierend gewesenen unterscheiden soll. Wir sprechen von Ökosozialismus, weil die kritische Erfahrung lehrt, dass bisherige Gehversuche gesellschaftlicher Umgestaltung den Naturverhältnissen schwer zugesetzt haben. Wir sprechen vom demokratischen Sozialismus, weil wir die bittere Erfahrung der diktatorischen Verselbstständigung politischer Macht gegenüber der Gesellschaft in den realsozialistischen Staaten gemacht haben. Wir sprechen von einem «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», und viele haben an diesen noch geglaubt, als auch der längst in die Sackgasse von Extraktivismus und autoritärem Staat geraten war. Wir sprechen über die Möglichkeiten und Grenzen eines «Neosozialismus» und betonen die Zentralität der liberalen Elemente eines «freiheitlichen Sozialismus», weil wir wissen, dass die Erfahrungen mit dem Sozialismus ganz andere sind. Wir sprechen von einem emanzipatorischen Sozialismus, weil wir hoffen, mit diesem Zusatz das ursprünglich gedachte, befreiende Potenzial wieder zum Leuchten zu bringen. Aber wir sprechen auch von «Antikapitalismus» oder «Postkapitalismus», weil wir uns der möglichen besseren Alternative des Danach begrifflich nicht mehr sicher sind.

Mit anderen Worten: Wenn wir über Sozialismus reden, dann tun wir dies immer auch in Abgrenzung zu ihm selbst. Weil es eine Geschichte des Sozialismus gibt, die nicht über den Stand einer Vorgeschichte hinausgekommen ist. Doch keine Vorsilbe, kein vorangestelltes Adjektiv entbindet uns von der mitzudenkenden Möglichkeit, dass der Realsozialismus eben nicht eine «Abweichung» von einem gedachten Besseren, «Reineren» war, sondern diese Praxis im Grunde schon das ausgeschöpft hat, was Sozialismus überhaupt sein kann. Darf man sich wirklich weiterhin damit beruhigen, dass der eine «nur real» war? Und welche Vorsilbe bliebe dann noch für den «anderen» Sozialismus: «utopisch»?

Marx hat verschiedene «Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet», und aus seinen Überlegungen den Schluss gezogen, dass die «bürgerlichen Produktionsverhältnisse» die «letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses» sei. Er war zugleich von deren fortschrittlichen Potenzialen überzeugt, denn «die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus». Und Marx hat weitergedacht, ohne freilich eine Zeitspanne zu nennen: «Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.»[3]

Was hätte Marx zum Scheitern des Realsozialismus gesagt?

Manche glaubten, es sei schon 1917 so weit gewesen. Bis 1989 sind weitere Versuche unternommen worden, alle scheiterten oder schlugen Entwicklungsrichtungen ein, bei denen man nicht mehr an das S-Wort denken möchte. Der marxistische Politikwissenschaftler Georg Fülberth hat vor inzwischen fast 30 Jahren vier Gründe aufgelistet, die einen «Ursachenzusammenhang für das Scheitern des Realen Sozialismus» bilden: «Überlegenheit des ‹Westens› im Kalten Krieg, Effizienzmangel durch Demokratiedefizit, imperialistische Vermachtung des Weltmarktes, Fehlen einer spezifischen Politischen Ökonomie des Sozialismus, da das Problem der Wert-Preis-Relation bislang nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch ungelöst blieb».[4]

Zwei dieser Gründe haben mehr mit dem Kapitalismus zu tun, die beiden anderen mehr mit dem Sozialismus. Es kommen viele weitere hinzu. Man sollte sich nicht vormachen, eine «sozialistische» Lösung dieser Probleme sei inzwischen einfacher geworden. Fülberth schlägt an anderer Stelle vor zu prüfen, «ob der Zustand dieser Gesellschaftsformation nicht in erster Linie aus der Geschichte des Kapitalismus erklärt werden sollte. Sozialismus wäre dann vorläufig nichts anderes als eine Art ‹Einschluss› im Kapitalismus».[5] Darin steckt der Gedanke, die realsozialistischen Realisierungsversuche seien «zu früh» geschehen, die materiellen Existenzbedingungen einer neuen Gesellschaft waren «im Schoß der alten Gesellschaft» noch nicht «selbst ausgebrütet», wie es Marx im Vorwort «Zur Kritik der Politischen Ökonomie» formuliert hat. Ein Teil der Menschheit hätte sich also eine Aufgabe gestellt, die sie nicht lösen konnte, weil die materiellen Bedingungen ihrer Lösung noch nicht «vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen» waren.[6]

Was auf die «Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft» folgt, wissen wir also noch nicht. Wie lange es bis dahin dauert, noch weniger. Was hätte der Alte aus Trier gesagt zum Vollzug des Scheiterns vor 30 Jahren? Der linke Philosoph Wolfgang Fritz Haug hat in seinem Perestroika-Tagebuch im Frühjahr 1990 für möglich gehalten, dass der Realsozialismus «in die ‹Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft› zurückversetzt» gehöre, «womöglich noch hinter den Kapitalismus».[7] Eine zweckoptimistischere, im Schema der aufeinanderfolgenden Gesellschaftsformationen verbleibende Konsequenz daraus könnte lauten, dass irgendwann doch die Zeit reif sein wird für einen dann anderen, besseren Sozialismus.

Wenn keine Vorsilben mehr helfen

Man könnte aber auch eine erfahrungsskeptischere Konsequenz ziehen, diese würde darauf hinauslaufen, die Überlegung wenigstens zu prüfen, ob die heute gestellten Aufgaben überhaupt nicht mehr in dem uns bekannten Sinne sozialistisch zu lösen sind. Kann, ja muss die Bilanz des «roten Jahrhunderts» nicht sogar zu dem Schluss führen, dass nicht nur der «reale», sondern der Sozialismus überhaupt nur als Teil dieser «Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft» denkbar ist? Dass er, siehe seine kommunistischen Abzweige, eine Variante gesellschaftlicher Entwicklung darstellt, deren Zeit vorbei ist, dass er Ergebnis bestimmter historischer, ökonomischer Umstände ist, geprägt von regionalen Sonderbedingungen, verknüpft mit bestimmten, nicht durch Vorsilben oder adjektivisch beigefügte Klarstellungen wegzuredenden Eigenschaften? Dass wir es nicht nur bei bestimmten Strategien dorthin mit überholten Transformationsmodellen zu tun haben, die, wie etwa das alte Modell der Revolution, aus überholten Kapital- und Überbaustrukturen resultierten?

Vielleicht ist nicht nur der «real existierende», sondern der Sozialismus überhaupt eine Erscheinung, die an Verhältnisse gebunden ist, die gerade vorübergehen: An Industrialisierung und Massenarbeiterschaft, an nationalstaatliche politische Räume und eine Strategie sozialer Integration durch Umverteilung von wirtschaftlichem Wachstum, an noch wenig ausdifferenzierte Gesellschaften und so weiter. Man darf diesen Gedanken nicht allein auf die osteuropäischen Regime der Vergangenheit und ihren Traditionsstrang beziehen. In seiner sozialdemokratischen Variante ist der Sozialismus ebenfalls in einer historischen Krise, der aktuelle Niedergang der dazugehörigen Parteiform ist hierzulande gleich doppelt zu beobachten. Auch dies stellt die Frage, was das überhaupt noch sein kann im Jahr 2019: Sozialismus, soziale Demokratie, Sozialdemokratie?

Vom Osten her eine dreifache Lücke

«Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat», hat der Schriftsteller Volker Braun ein Jahrzehnt nach dem Vollzug des realsozialistischen Scheiterns einmal gesagt.[8] Der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban hat an diese Redewendung unlängst noch einmal erinnert, es ist nicht einfach, sie wieder aus dem Kopf zu bekommen. Vom Osten her betrachtet lässt sie eine dreifache Lücke spüren: Was Sozialismus genannt wurde, steht auch für Biografien – und die Skepsis ob dieses Begriffes überträgt sich auf die Selbstwahrnehmung eines Lebens unter solchen Verhältnissen. Was Sozialismus genannt wird, hat zweitens als politische Großerzählung eine wichtige Bedeutung. Es ist für viele ein Ordnungsrahmen, in dem man sich politisch bewegt, ein Kraftfeld, das Zusammenhang stiftet, eben: eine Weltanschauung. In Zeiten, in denen alle ständig nach neuen «großen Erzählungen» rufen, wird man nicht leichtfertig eines dieser «Narrative» auf den Sperrmüll werfen.

Und drittens fehlt da etwas, weil die Erinnerung noch lebendig ist an Zeiten des Umbruchs, des Aufbruchs, in denen es so schien, als könnten wir aus der Vorgeschichte des Sozialismus endlich heraustreten, ohne ganz aus ihm herauszufallen. Das Aufbegehren 1989 begann weit links von dem, was heute in der herrschenden Erinnerung davon übriggelassen wird. Im Prinzip ging es um linke, progressive Forderungen – um Ziele, die in der einen oder anderen Weise in den Vorsilben und adjektivisch beigefügten Klarstellungen heutiger Sozialismusbegriffe weiterhin aufgehoben sind. Indem aber die zeitgenössischen «Zielvorstellungen von einer eigenständigen sozialistischen DDR zum realitätsfernen Hirngespinst von Sonderlingen» abgestempelt wurden, wie es der Historiker Martin Sabrow einmal genannt hat,[9] wurde zugleich das politische Denken vom Vorrat an Erfahrungen jener Monate abgeschnitten.

Das ist keineswegs bloß die Schuld jener, welche die heute immer noch herrschenden Verhältnisse für alternativlos erklären. Es liegt auch linkes, auf falscher Rücksicht gründendes Versäumnis darin – jenen gegenüber, die anderen das Ende der DDR nicht verzeihen wollen, die mit ihrer Kritik, mit ihrer Opposition die Wende erst ermöglichten. Dies links liegen zu lassen hat mit dazu beigetragen, dass wir uns heute schwertun, weil etwas «keinen Namen» mehr hat.

Da war zum Beispiel der Aufruf «Für eine Vereinigte Linke in der DDR», der einen Minimalkonsens aus sozialistischer Demokratie, Freiheitsrechten, Recht auf Arbeit und Umweltschutz formulierte sowie eine «DDR als Gesellschaft sozialistischer Freiheit» anstrebte, die von «Antistalinismus, Antifaschismus, Antimilitarismus im Besonderen, Antikapitalismus, Antinationalismus, Antirassismus» geprägt sein sollte.[10] Da wollte das Neue Forum auf der einen Seite «eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum», es ging um «freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln».[11] Da gründete sich, um ein weiteres von vielen möglichen Beispielen zu nennen, die Bewegung Demokratie Jetzt mit dem Anspruch, «der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muss.»[12]

Etwa zur selben Zeit formulierten Intellektuelle innerhalb der SED Überlegungen zur Verbindung von gesellschaftlichem Eigentum und politischer Demokratie. In den dabei entwickelten Aspekten eines «modernen Sozialismus», so scheint es rückblickend, war nicht so sehr das «Sozialistische» interessant, sondern das «Moderne». Es lag dem eine Herangehensweise zugrunde, die kapitalistische Welt und die realsozialistischen Staaten nicht als unversöhnliche, unvereinbare Blöcke zu betrachten, von denen der eine den anderen im Rahmen einer geradlinigen, gesetzmäßigen Abfolge von Gesellschaftsformationen schließlich «übrigbleiben» würde. Sondern der Blick ging eher von unterschiedlichen Varianten moderner Gesellschaften aus, von einer Vielfalt möglicher, gestaltbarer Entwicklungspfade. Deshalb erscheint auch hier der Begriff des «Dritten Weges» nicht allzu passend, denn dieser reproduziert das Schema von Idealtypen, von Kapitalismus und Sozialismus als «Feuer und Wasser», wie der Historiker Ralf Possekel das einmal beschrieben hat.[13] Nicht mehr Systemauseinandersetzung, sondern Ringen um Wege zur Lösung von weltgesellschaftlichen Problemen, aber nicht als Kampf zweier hochgerüsteter Giganten.

Wenn man auf der Suche nach dem ist, was einem fehlt, für das man aber keinen Namen mehr hat, lassen sich hier Anregungen finden. Aber nicht nur hier. Die sozialismuskritischen Diskussionen, kritisch im Sinne einer Neuformulierung des mit dem alten Begriff einhergehenden Versprechens, des Überdenkens der Wege dorthin, der zu gebrauchenden Mittel, kamen stets in den Krisen progressiver Bewegungen auf. Das gilt zum Beispiel für den zu Unrecht verfemten Sozialdemokraten Eduard Bernstein, für andere linkssozialistische Traditionen, für die osteuropäische Dissidentia, für Ansätze zu einer Reformulierung einer nichtkapitalistischen Politischen Ökonomie und für vieles mehr. Ob man sich bei dem österreichischen Sozialisten Otto Bauer und seiner wirtschaftlichen Demokratie als eine reale «Selbstbestimmung des Volkes in seinem Arbeits- und Wirtschaftsprozess» erkundigt, oder bei, Alt-Liberalen John Stuart Mill nachliest, dem es darum ging, «die größtmögliche persönliche Freiheit mit der gerechten Verteilung der Früchte der Arbeit zu verbinden» – es scheint zumindest den Versuch wert, auch bisher eher abseits liegende Ideen noch einmal politisch abzuwägen: Was kann man aus ihnen für eine politische Praxis lernen, deren Kern sein müsste, die Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Teilhabe aller an allen sie betreffenden gesellschaftlichen Entscheidungen immer wieder neu zu schaffen und zu erweitern, damit auf jeweils neuer Stufe nächste Schritte ausprobiert werden können?

Wertekompass und kategorische Imperative

Der leider zu früh verstorbene US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright hat das Demokratische als Zentrum betont, gegenüber «Modellen» mit generalisierter Weltgeltung blieb er skeptisch. «Die Erosion des Kapitalismus als Strategie beruht auf der Idee», so Wright, «die dynamischsten emanzipatorischen Spezies nicht-kapitalistischer ökonomischer Aktivitäten in das Ökosystem des Kapitalismus einzuführen. Diese würden gedeihen, indem wir ihre Nischen schützen und Wege suchen, ihr Habitat auszudehnen. Letztlich wäre die Hoffnung, dass diese fremden Spezies aus ihrer Nische ausbrechen und das Ökosystem als Ganzes verändern können.»[14] In Elementen kooperativer Marktwirtschaft, in Ansätzen von solidarischer Ökonomie, in marktferner Wirtschaftsorganisation und durchgreifender Demokratisierung der Produktion und Verteilung sieht Wright dazu Elemente.

Wright unterscheidet seinen «Sozialismus» idealtypisch nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch vom Etatismus – der im Grunde das bezeichnet, was hier die Vorgeschichte des Sozialismus genannt wurde, also den real existierenden. Aber ist das dann auch schon die Lösung für das von Volker Braun beschriebene Problem, dass uns was fehlt, das keinen Namen mehr hat? Kann eine Lösung schon darin bestehen, dass wir für die Schiefbauten und Verzerrungen, für die Gewalt und all die Zumutungen, für die gefährliche Akkumulation politischer Macht in Apparaten dann bloß ein anderes Wort nutzen, um das eine zu retten?

Sein Vorschlag, so hat es Wright einmal zusammengefasst, drehe sich «darum, die Machtverhältnisse in der Ökonomie so zu verändern, dass die Möglichkeit einer ernsthaften Demokratie vertieft und erweitert wird».[15] Die Praxis dorthin, so fährt er fort, ist bunt, vielfältig, folgt keinem Zentrum. Das Ziel, von dem wir nicht viel wissen, lässt sich ethisch begründen, die Bewegung, die sich um sein Erreichen verdient macht, folgt einem Wertekompass, und nicht überholten Annahmen eines angeblich «wissenschaftlichen Sozialismus». Zwei mögliche kategorische Imperative kann man bei Marx nachlesen. Über «Sozialismus» hat er dagegen nicht viel geschrieben.

So bleibt zunächst erst einmal Volker Brauns Satz gültig: «Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat.» Man muss sich ihn ja nicht zur Begründung für das Aufgeben der Suche danach zurechtlegen.

Horst Heimann: Groß geschrieben, plural und integrativ

Hat der Sozialismus trotz seines epochalen Scheiterns eine Zukunft? Ja, unter dem Namen «Demokratischer Sozialismus» kann die Linke das schaffen, was der Menschheit fehlt. Anmerkungen zu einem Text von Tom Strohschneider.

 

 


[1] Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Berlin 1956ff. [MEW], Bd. 1, S. 385.

[2] Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 21.

[3] Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 9.

[4] Fülberth, Georg: Sieben Anstrengungen, den vorläufigen Endsieg des Kapitalismus zu begreifen, Hamburg 1991, S. 108ff. und 114f.

[5] Ebd., S. 26.

[6] Marx: Zur Kritik, MEW, Bd. 13, S. 9.

[7] Haug, Wolfgang Fritz: Versuch, beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen. Das Perestrojka-Journal, Hamburg 1990, S. 451.

[8] Braun, Volker: Die Verhältnisse zerbrechen. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000, Frankfurt a.M. 2000.

[9] Sabrow, Martin: Der vergessene «Dritte Weg», in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2010, S. 6.

[10] Für eine Vereinigte Linke in der DDR: Appell, 4.9.1989.

[11] Aufbruch 89 – Neues Forum: Aufruf, 10.9.1989.

[12] Demokratie Jetzt: Aufruf zur Einmischung in eigener Sache, 12.9.1989.

[13] Possekel, Ralf: Wie und warum an den Dritten Weg erinnern? Mit einem Exkurs von Rainer Land: Das Konzept Moderner Gesellschaften und die Überwindung der Systempolarität. Entwurfsfassung. Erarbeitet für die German Studies Association, 34. Jahreskonferenz, 7.10.2010, Oakland, California, 287. Taking Stock of the GDR (11): The East German Revolution of 1989 and its «Third Way».

[14] Wright, Erik Olin: Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet, demokratischer Sozialist zu sein, Hamburg 2019, S. 58.

[15] Wright, Erik Olin: Durch Realutopien den Kapitalismus transformieren, in: Brie. Michael (Hrsg.): Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?, Hamburg 2015, S. 60.