Der erste Band in der hier vorliegenden Reihe »einundzwanzig« stellte sich der Frage, in welcher Gesellschaft und Situation wir leben und welche Zukünfte vor uns liegen könnten: »Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht«. Der Gegenstand des zweiten Bandes war das womöglich elementarste Zukunfts- und Überlebensproblem der Menschheit, die Gefahr einer Klimakatastrophe als Teil der Umweltkrise: »Grüner Kapitalismus. Krise, Klimawandel und kein Ende des Wachstums «. Im dritten Band wenden sich die Autoren der entscheidenden politischen Antwort auf die mehrdimensionale gegenwärtige Krise und auf die in ihr enthaltenen Drohungen und Chancen zu, der Erneuerung der Demokratie: »Demokratie und Krise – Krise der Demokratie«.
Der verbindende Grundgedanke der gesamten Reihe ist, dass die gegenwärtige Gesellschafts- und Zivilisationskrise in offene transformatorische Prozesse mündet. Heftig umstritten wird in der kommenden Zeit sein, ob die Entwicklung zu nicht mehr als einer staatsinterventionistisch modifizierten Gestalt des neoliberalen Kapitalismus führen wird, zu einem mehr oder weniger radikalen Sozialabbau als Antwort auf die überdehnte Staatsverschuldung, verbunden mit stark autoritären Tendenzen. Oder ob unter dem Druck der Klima- und Umweltkrise ein Grüner Kapitalismus die Entwicklung bestimmen wird, in autoritärer oder anderer Form. Oder ob im glücklichsten Fall der Kampf für eine postneoliberale Entwicklung eine progressive Variante des Kapitalismus, eine ökosoziale Reformalternative, hervorbringen wird. Sie würde durch andauernde Kämpfe zwischen einem Weiterwirken der Profitdominanz und einer starken Gegentendenz zur Durchsetzung sozialer und ökologischer Entscheidungsmaßstäbe in Wirtschaft und Gesellschaft gekennzeichnet sein.
Unter der schwer einzulösenden Voraussetzung einer weitreichenden Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, der Annäherung und Verbindung unterschiedlicher alternativer Kräfte zu einem breiten Mitte-Unten-Bündnis und der Machtoption linksorientierter Regierungskoalitionen kann es perspektivisch gelingen, Transformationsprozesse im Kapitalismus für ein alternatives Gesellschaftsprojekt zu öffnen. Dann würden Züge einer künftigen solidarischen Gesellschaft oder des demokratischen Sozialismus sich bereits in demokratisierten postneoliberale bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften abzeichnen. Eine doppelte Transformation als Entwicklung im Kapitalismus und über ihn hinaus als Übergang zu einer solidarischen Gesellschaft, zu einem demokratischen
Sozialismus könnte sich vollziehen.
Diese Möglichkeit ist jedoch an eine entscheidende Voraussetzung gebunden, an eine weitreichende Belebung und Erneuerung der Demokratie in Deutschland, in Europa und in weiteren Erdregionen. Was heute von den meisten als ungerecht, aber nicht veränderbar angesehen wird, muss in Frage gestellt werden. Wo die ökonomisch Mächtigen in ihrem eigenen Interesse entscheiden, müssen die gegenwärtig von ihnen Abhängigen die Regeln der Entscheidung neu setzen. Die Dominanz des Profits in Wirtschaft und Gesellschaft muss dem Maßstab der Freiheit für jede und jeden durch sozial gleiche Teilhabe an den Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens und der solidarischen Verpflichtung auf das Gemeinwohl weichen. Was aber das Gemeinwohl in jedem einzelnen Fall ist, kann nur durch die Teilnahme der Handelnden, der Betroffenen, der Vielen an den Entscheidungen herausgefunden werden, nur durch die Erweiterung der repräsentativen Demokratie durch die partizipative Demokratie. In der gegenwärtigen Scheidewegsituation, deren Ausgang offen ist, gewinnt daher eine Demokratisierung der Demokratie zukunftsentscheidende Bedeutung. Sie bedarf der Veränderung
von Macht-, Verfügungs- und Eigentumsverhältnissen, der Verbreitung von Wissen und der Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge, der Anerkennung von Pluralität, unterschiedlichen Interessen
und Anschauungen. Sie braucht eine Kultur des Argumentierens und Zuhörens, der Anerkennung, des Lernens auch von anders Denkenden und der Toleranz.
Die Erneuerung der Demokratie ist selbst Gegenstand eines Such- und Lernprozesses. Das legitimiert das Vorgehen in dem hier vorliegenden Band, Erfahrungen unterschiedlicher Autoren mit verschiedenen Zugängen zum behandelten Gegenstand zusammenzuführen und nicht eine einheitliche, von allen geteilte Meinung anzustreben. Manche Defizite entstanden durch Zufall, etwa der krankheitsbedingte Ausfall eines Beitrages zur Rolle der Parteien im gegenwärtigen politischen System und für seinen demokratischen Wandel. Hoffentlich treten dafür andere Aspekte, etwa die Betonung der Wirtschaftsdemokratie, der Rolle sozialer Bewegungen, der Geschlechterdemokratie und der europäischen und völkerrechtlichen Dimensionen von Demokratisierungsprozess genügend
deutlich hervor.
Die Reihe »einundzwanzig« handelt von den möglichen Zukünften des neuen Jahrhunderts. Am Beginn des vorigen Jahrhunderts war kaum vorstellbar, welche grandiosen Möglichkeiten und welche schrecklichen Abstürze dieses Millennium hervorbringen würde. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sollten wir daraus lernen, dass wiederum die Chancen größer sein könnten als in unseren innovativsten Fantasien heute vorstellbar – und dass die Gefahren die schwärzesten Szenarien noch übertreffen könnten. In dieser Unsicherheit darf eines allerdings als sicher gelten: Es wird einer radikal erneuerten Demokratie bedürfen, die die Kreativität und Innovationskraft der Vielen zur Geltung bringt, die ihre Gestaltungsmacht ausschöpft, ihre Sensibilität für Bedrohungen stärkt und in deren aktive Abwehr verwandelt. Demokratisierung der Demokratie wird das Lebenselixier jener Gesellschaften sein, die dem Jahrhundert menschlichen Glanz verleihen. Ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts wird eine Welt schaffen, in der viele Welten Platz haben. Er wird demokratischer Sozialismus sein – oder es wird ihn nicht geben.
Dieter Klein
Reihe «einundzwanzig» der Rosa Luxemburg Stiftung, Bd. 3
Peter Wahl, Dieter Klein (Hrsg.)
Berlin, Karl Dietz Verlag Berlin 2010
ISBN 978-3-320-02239-6