Parlamentarier der «Spinelli-Gruppe» legten 2014 einen EU-Verfassungsentwurf vor, in dem die Europäische Union nicht als politisches Gemeinwesen der «Unionsbürger» betrachtet wird. Vielmehr wird im Sinne einer «Bereinigung» der bestehenden Verträge die technokratische, entdemokratisierende Methode der Vertragsschließung souveräner Regierungen fortgeführt. Dieser Entwurf blockiert die notwendige politische Debatte über Perspektiven der Union eher, als sie zu befördern.
Frieder Otto Wolf arbeitet in der hier vorgelegten kritischen Analyse des Verfassungsentwurfs der europäischen Parlamentariergruppe, die sich mit dem Namen Altiero Spinellis schmückt, heraus, dass sich dieser Entwurf keineswegs auf dessen europapolitisches Erbe berufen kann. Um dies zu verdeutlichen, machen wir nachfolgend auch den Originaltext von Spinellis «Manifest von Ventotene» zugänglich, in dem er seine Vision eines vereinten Europas beschrieb. Dieses Manifest wurde zu einem Gründungsdokument der Europäischen Bewegung.
Anstatt eine zukunftsoffene Verfassung für einen demokratischen Konstituierungsprozess der Europäischen Union als politisches Gemeinwesen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger vorzulegen, hat sich die sogenannte Spinelli-Gruppe offenbar darauf verständigt, unter dem Vorwand einer «Föderalisierung» der Europäischen Union eine einseitige Stärkung der zentralen Entscheidungsinstanzen zu betreiben – was auch durch damit verknüpfte Traumbilder eines europäischen Parlamentarismus nicht aufgehoben wird. Insofern fügt sich dieser Entwurf nahtlos ein in die derzeitigen Prozesse einer Zentralisierung und Hierarchisierung der Macht innerhalb der Europäischen Union. Auch wenn er in dieser Gestalt nicht verabschiedet werden dürfte, antizipiert er wesentliche Tendenzen der laufenden autoritären Umgestaltung der Europäischen Union – und versucht sogar noch, dem außerhalb der Verträge agierenden Krisenmanagement der führenden Regierungen innerhalb der Europäischen Union zu einer demokratischen Fassade zu verhelfen. Entsprechende Vorstellungen haben sich mittlerweile im sogenannten 5-Präsidenten-Papier2 vom 1. Juli 2015 sedimentiert.
Der Kritik des Verfassungsentwurfs der «Spinelli- Gruppe» vorangestellt ist ein Text, im dem Frieder Otto Wolf mit Blick auf eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union Chancen und Möglichkeiten für einen konstitutiven europäischen Prozess von «unten » prüft. Diese sind gegenwärtig minimal: Eine Verfassungsreform oder eine Verfassungsgebende Europäische Versammlung sind derzeit unrealistisch. Eine Verfassungsdebatte von links bleibt daher abstrakt, solange kein – europäisches – politisches Subjekt geschaffen wurde, das einen solchen Prozess vorantreiben könnte. Dieser erste Schritt eines konstitutiven Prozesses steht nun auf der Tagesordnung.
Inhalt:
- Frieder Otto Wolf: Wie kann aus der gegenwärtigen Krise heraus ein konstitutiver Prozess der Europäischen Union erkämpft werden?
- Frieder Otto Wolf: Keine Verfassung für Europa – Neoliberale Festschreibung per Verfassungsoktroi. Zur Kritik des von der «Spinelli-Gruppe» 2013 vorgelegten Entwurfs eines «Grundgesetzes für die EU»
- Altiero Spinelli: Das Manifest von Ventotene