Der russländische Analytiker Fjodor Lukjanow bemerkt in einem Artikel zur Rebellion Jewgeni Prigoschins, dass in der heutigen Welt nicht unbedingt der Stärkste gewinne, sondern der Ausdauerndste. Russland sei auf diese Variante bestens vorbereitet. Der Autor gehört zu dem Kreis, der im Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn im Februar 2022 an Einfluss gewonnen hat. Daher sollte man derartige Äußerungen durchaus ernst nehmen. Er weist damit auf die längerfristigen Entwicklungen in Russland hin, die von den meisten Beobachter*innen kaum wahrgenommen werden. Auch jetzt hat der Marsch eines Söldnerunternehmers andere bedeutsame Entwicklungen der letzten Wochen in den Hintergrund treten lassen.
Lutz Brangsch ist Referent Transformation des Staates bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die in vielen Kommentaren angestellten Spekulationen über die Labilität des politischen Systems, über bevorstehende Bürgerkriege und dergleichen resultieren eher aus der Ignoranz gegenüber den in Russland ebenso präsenten stabilisierenden Tendenzen. Stellt man zudem die (nicht nur durch Repression) völlig zersplitterte Opposition in Rechnung, wird klar, dass die politische Initiative in Russland weiterhin in der Hand der Zentralmacht liegt. Und die hat im Umgang mit Prigoschin ihre Handlungsfähigkeit bewiesen – auch wenn die Lösung eine der Netzwerke, nicht des Staates war: Der Staat bzw. der Staatsapparat gab dem Elitenkampf einen Rahmen und bewies genau damit gleichzeitig Loyalität gegenüber dem Präsidenten.
Ein Land auf der Suche
Der in zahlreichen Stellungnahmen mehr oder weniger offen geäußerten Hoffnung auf eine Schwächung Russlands und der Moskauer Zentralgewalt muss man entgegenhalten, dass spätestens im Verlaufe des zweiten Halbjahres 2022 Weichenstellungen vorgenommen wurden, die auf einen umfassenden Modernisierungskurs hinauslaufen. Dieser verläuft anders als einst der westeuropäische und auch anders als heute der chinesische Weg, auch wenn auf letzteren immer wieder positiv Bezug genommen wird. Es geht um ein politisch, kulturell und sozial konservatives System, unternehmerisch frei und technisch innovativ bei Nutzung der internationalen Arbeitsteilung, ohne emanzipatorischen Tendenzen Raum zu geben.
Der Bezug auf das chinesische Modell liegt in der Formel «Starker Staat und starker Markt». Dieser Ansatz erklärt auch, warum der Krieg gegen die Ukraine auf eine bestimmte Art und Weise geführt wird – er gilt als Instrument zur Behauptung eines autonomen (nicht autarken!), nichtwestlichen Weges. Eine Eskalation wie auch ein Abbruch des Krieges könnte dieses Modernisierungsprojekt gefährden: Eine Eskalation würde zu viele Ressourcen entziehen, sein Abbruch zu westlichen Konditionen die Legitimität des Systems in Frage stellen.
In Widerspruch geriet Prigoschin mit seiner Kritik an der Unentschlossenheit der Armeeführung und der Begründung des Krieges nicht mit den Ambitionen politischer Führungspersönlichkeiten, sondern mit einer inzwischen in der Umsetzung befindlichen Strategie. Die Zeit ist über ihn hinweggegangen; er war eben nicht «ausdauernd» – dass er nicht «stark» war, hängt damit zusammen.
Worin liegt nun das «ausdauernde» Moment der russländischen Politik? Folgende Komponenten dürften dafür maßgeblich sein: a) die Art der laufenden Vorbereitungen auf die Regional- und Dumawahlen, die auf eine Konsolidierung der Eliten gerichtet ist; b) die Politik mit Bezug auf die Unternehmerschaft; c) Reformen im Bildungssystem; d) die Fortführung von Formen staatlicher Planung und Regulierung innovativer Wirtschaftsbereiche und der Rekonstruktion der Infrastruktur; e) die Modernisierung der Verwaltung. Begleitet wird dies von einer ideologischen Offensive zur Verankerung konservativer Werte, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, und deren Verrechtlichung.
Das Ziel: eine angebotsorientierte Wirtschaft
Im Mittelpunkt steht dabei der Versuch, dem seit zwei Jahrzehnten schleppend verlaufenden wirtschaftlichen Modernisierungskurs Dynamik zu verleihen.
Am 16. Juni 2023 trat Putin mit einer wirtschaftspolitischen Grundsatzrede auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg auf. Nachdem bereits seit einem Jahr, besonders ab Dezember 2022, die Konturen des Wirtschaftskonzepts immer deutlicher wurden, versucht Putin nun, dieses Konzept begrifflich auf den Punkt zu bringen. Er bzw. sein Kreis strebt demnach eine Angebotsökonomie an, in dessen Zentrum der im Sinne des Staates «innovative Unternehmer» steht. Breiten Raum nehmen Ausführungen dazu ein, wie dessen Eigentumsrechte gewahrt werden sollen. Die Resultante seiner Darstellungen ist die Vision eines sozial-paternalistischen, auf die Förderung unternehmerischer Initiative orientierten starken Staates mit einer modernen, innovationsorientierten und international konkurrenzfähigen Wirtschaft, die sich aus dieser starken Position heraus in die Weltwirtschaft einordnet. In diesem Sinne beschreibt er, was technologische Souveränität und Importablösung bedeuten, wobei er Vorstellungen wirtschaftlicher Autarkie eine Absage erteilt. Die Wirtschaft Russlands solle zudem eine Wirtschaft mit hohen Löhnen werden, mit neuen Anforderungen an das System der beruflichen Bildung, einer hohen Arbeitsproduktivität (auch auf Grundlage der Automatisierung und neuer Leitungssysteme), mit modernen Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen hoher Qualität.
Betrachtet man die in der Rede formulierten Aufträge an die Regierung, scheint es, als wolle Putin bis Ende des Jahres durchsetzen, dass der Umbau von Wirtschaft, Staat und Eliten institutionell und juristisch weitgehend unumkehrbar gemacht wird. Vor den Präsidentschafts- und Duma-Wahlen sollen strategische Weichenstellungen abgeschlossen sein. Indem er eine Perspektive jenseits der Krieges skizziert, eilt er der Realität voraus – eine nachvollziehbare, aber auch risikobehaftete Methode der Beschleunigung gesellschaftlicher Entwicklungen, zu der es offensichtlich keine Alternative gibt, denn in der gegebenen russländischen Realität liegt selbst keine Zukunft.
Die Probleme, die sich abzeichnen, werden nun, nur wenige Wochen nach der Rede des Präsidenten, sichtbar. Zum einen zeigt eine Untersuchung des Wirtschaftsministeriums, dass bisher nur in sechs von 37 staatlichen Leitlinien zur wirtschaftlichen Entwicklung die Zielstellungen erreicht werden konnten. Die Luftfahrtindustrie als Schlüsselbereich schnitt dabei besonders schlecht ab. Zum anderen will der Finanzminister die Haushaltsausgaben im kommenden Jahr um zehn Prozent senken. In seinem Ansatz werden allerdings die von Putin geforderten neuen sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen noch nicht berücksichtigt. Ausgeschlossen von den Kürzungsvorschlägen sind bisher die Sozialausgaben. Vorstöße, die Mehrausgaben durch Erhöhung der Staatsverschuldung (derzeit knapp 15 Prozent) zu decken, stoßen auf entschiedenen Widerstand der Zentralbank, da dadurch u.a. der Privatwirtschaft der Zugang zu Krediten erschwert werden würde.
Erneuerung der Eliten
Seit einigen Monaten liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten auf der Neuformierung der Eliten in Staat und Wirtschaft. Bemerkenswert ist, dass Putin – anders als in früheren Jahren – den Status des Unternehmertums deutlich aufwertet. In der Petersburger Rede fordert er, die Kontrollen und Sanktionen spürbar zurückzufahren. Bereits seit längerem wird diskutiert, bisherige wirtschaftliche Straftatbestände zu beseitigen oder abzuschwächen. Es geht Putin dabei um das Heranziehen einer neuen ökonomischen Elite, die im Zusammenwirken mit dem Staat, aber mit hinreichender unternehmerischer Freiheit, den notwendigen Modernisierungsschub organisiert. Er fordert von den Staatsorganen Partnerschaft mit den Unternehmer*innen, einschließlich neuer Gemeinschaftsprojekte von öffentlicher Hand und Privatunternehmen (auch PPP-Projekte – Private Public Partnership – genannt). Das Thema Privatisierungen bleibt aktuell.
Dieser Elitenumbau in der Wirtschaft soll seine Entsprechung in der Politik finden. Unter den von der Präsidentenpartei Einiges Russland benannten Kandidat*innen für die anstehenden Wahlen scheinen sich viele Neueinsteiger*innen zu befinden.
Gegenüber den Gouverneuren hat der Präsident in den letzten Monaten eine Politik der Kontrolle und öffentlichen Bewertung praktiziert. Die Gouverneure sind das entscheidende Bindeglied zwischen der Zentralregierung und den Regionen. Das gilt sowohl in Bezug auf die wirtschaftliche Belebung und die soziale Stabilität, als auch hinsichtlich der Sicherheitspolitik im Hinterland des Ukrainekriegs. In den letzten Jahren wurden durch Umbesetzungen auf dieser Ebene bereits die Bedingungen geschaffen für die Formierung einer im Interesse der zentralen Vorgaben aktiven Schicht. Dazu gehören, neben dem gehörigen Erfolgsdruck über Ratings, auch die verstärkte Ausbildung und Schulung von Gouverneuren und Kommunalpolitiker*innen in der Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst beim Präsidenten der Russischen Föderation.
Putin traf sich mit fast allen Amtsinhabern, die sich der Wiederwahl stellen. Diese Treffen wurden öffentlich präsentiert, man diskutierte Stärken und Schwächen der Regionen, und der Präsident sprach «Empfehlungen» aus. Auf der Regierung nahestehenden Telegram-Kanälen (beispielsweise Nezygar mit über 330.000 Abonnent*innen) wurden zuletzt auch immer wieder ausführliche Vergleiche der Aktivitäten der Gouverneure veröffentlicht. Diese Diskussion ist zwar öffentlich, aber nicht offen – Opposition auf regionaler Ebene ist nur begrenzt möglich. Sie bleibt ein Privileg von Teilen der Elite.
Starker Staat durch starke Ideologie
Es gibt ein auffälliges Zusammenfallen der Fixierung eines letztlich neoliberalen Kurses in der Wirtschaftspolitik und der eines bestimmten ideologischen Kurses. Die ideologische Offensive wird mit äußerster Brutalität vorangetrieben: Alle drei Achsen der Repression, auf die sich die Sicherheitsorgane stützen – der Vorwurf der Verbreitung von Falschnachrichten über die Streitkräfte, die Erklärung unerwünschter Personen zu Inoagenty (ausländischen Agenten) und der Vorwurf der «LGBT-Propaganda» –, sind eng mit dieser Offensive verbunden.
Im Herbst vergangenen Jahres begann das vom Bildungsministerium entwickelte Projekt «Die DNS Russlands». Es orientiert zunächst auf eine Reform der Hochschulbildung, soll später aber das gesamte Bildungssystem erfassen. Während einer Präsentation des Projekts an der Universität St. Petersburg erklärte deren Prorektorin, Elena Chernova, dass es darum gehe, bei den Studierenden eine neue Weltanschauung zu verankern. Zentral dafür seien die Orientierung auf einen bestimmten Wertekanon und ein positives Geschichtsbild. In einem entsprechenden Konzeptpapier wird das angestrebte Wertesystem als «Pentabasis» beschrieben, die folgende Punkte umfasst:
- Patriotismus;
- Vertrauen in die gesellschaftlichen (tatsächlich die staatlichen) Institutionen;
- Einigkeit der Gesellschaft;
- Traditionen des familiären Lebens (die traditionelle Familie);
- der Wille zu gestalten: Wertschätzung des Erfolgs; Selbstermächtigung; das Verständnis, dass Erfolg und Wohlergehen von persönlichen Anstrengungen abhängen; die Orientierung auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und ein bürgerliches Selbstverständnis, sich als Teil der Gesellschaft, des Landes und des Staates zu verstehen.
Insbesondere der letzte Punkt ist eine Referenz an die wirtschaftspolitischen Zielstellungen. Auf dem Wirtschaftsforum von St. Petersburg im Juni 2023 charakterisierte Vizepremier Andrej Belousow das ideologische Projekt als modernisierten Konservatismus, der die traditionellen Werte des Westens bewahre. Dieser positive Bezug auf die Werte des von sozialstaatlichen Begrenzungen freien «Manchesterkapitalismus» und die Ablehnung des durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung und deren Kämpfe bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts eingehegten Kapitalismus ist eine Achse der ideologischen Offensive geworden.
Diese Offensive bildet auch den Hintergrund einer Diskussion, die durch die Prigoschin-Revolte in den Hintergrund gedrängt wurde. Am 13. Juni 2023 forderte Sergej Karaganow, einer der intellektuellen Köpfe der Kriegspartei, in einem Artikel, die Angst vor einer nuklearen Eskalation, vor dem Untergang der Menschheit, wiederherzustellen. So verlangte er etwa die offene Benennung der Ziele atomarer Schläge in Feindesland.
Bereits kurz nach Erscheinen des Artikels konstatierte der Autor in einem Gespräch auf dem YouTube-Kanal «Международное обозрение», dass es breite Kritik an seinem Szenario gebe. Er blieb aber bei seinen Aussagen und unterstrich seine Vorstellung von den «degenerierten Eliten im Westen». Dementsprechend rechnet Karaganow mit Zerfallsprozessen in den westlichen Gesellschaften. Als Ziel eines Nuklearschlags sieht er Europa (und nicht die USA). Überdies sieht er keine Möglichkeit für Verhandlungen mit der Ukraine, sondern nur die Möglichkeit der «Zerstörung des Feindes». Der Moderator Fjodor Lukjanow merkte zum Schluss der Sendung beschwichtigend an, dass es wichtig sei, das alles auszusprechen, bevor es «zu spät» (offensichtlich meint er für die Verhinderung einer nuklearen Katastrophe) sei.
In den folgenden Tagen äußerten sich verschiedene Wissenschaftler und Kommentatoren zu Karaganows Vorstoß. Auch von Befürwortern des Kriegskurses und des Bruchs mit dem Westen wurde sein Konzept eines präventiven Nuklearschlags dabei abgelehnt. Damit liegen seine Widersacher auf der Linie des Präsidenten, der auf entsprechende Fragen immer mit dem Verweis auf die russländische Sicherheitsstrategie reagiert, die einen Nuklearschlag nur für den Fall der existenziellen Bedrohung des Landes vorsieht. Und davon ist der Krieg in der Ukraine derzeit weit entfernt. Auch lehnt eine überwiegende Mehrheit der russländischen Bevölkerung die Anwendung von Atomwaffen im Krieg gegen die Ukraine ab. Das gilt vor allem für diejenigen, die die Aufnahme von Friedensverhandlungen befürworten. Das weiß Karaganow natürlich. Warum also der aggressive Vorstoß?
Ein regierungsnaher Kommentator sieht den Sinn dieser Intervention darin, dem «Gegner» zu zeigen, dass die Expertenöffentlichkeit in Russland nicht diskutiere, ob man bei dem eingeschlagenen Kurs bleiben wolle oder nicht, sondern wohin er führen solle. Man kann und muss den Beitrag aber auch als Antwort auf die in den bundesdeutschen Leitlinien zur feministischen Außenpolitik und in der Nationalen Sicherheitsstrategie angelegte Bereitschaft zur Eskalation auffassen. In jedem Fall stärken beide Dokumente der Bundesregierung die Position der von Karaganow vertretenen Fraktion in Russland, auch wenn die von ihm vertretene nukleare Option nicht geteilt wird.
Man sollte sich also nicht so sehr auf seine Forderung nach glaubhafter atomarer Abschreckung konzentrieren, zumal das Vorgehen von Regierung und Militär keine Anzeichen für die Anwendung von Atomwaffen erkennen lassen. Wichtiger sind die globalpolitischen konzeptionellen Überlegungen. So schreibt er:
«Indem wir den Willen des Westens zur Aggression brechen, werden wir nicht nur uns selbst retten und die Welt endlich von einem westlichen Joch befreien, das fünf Jahrhunderte gedauert hat, sondern auch die gesamte Menschheit. Indem wir den Westen zu einer Katharsis und zur Aufgabe seiner Hegemonie durch seine Eliten zwingen, werden wir ihn zum Rückzug zwingen, bevor die Weltkatastrophe eintritt. Die Menschheit wird eine neue Chance erhalten, sich weiterzuentwickeln... Es ist auch notwendig, die inneren Probleme zu lösen – sich endlich vom Westzentrismus in den Köpfen und von den Westlern in der Verwaltungsschicht, von den Kompradoren und ihrer eigentümlichen Denkweise zu befreien. (Allerdings hilft uns der Westen dabei, ohne es zu wollen.) Unsere dreihundertjährige Reise durch Europa hat uns viele nützliche Dinge beschert und uns geholfen, unsere große Kultur zu formen. Lassen Sie uns unser europäisches Erbe in Ehren halten. Aber es ist an der Zeit, nach Hause zurückzukehren, zu uns selbst. Beginnen wir mit dem angesammelten Gepäck, mit unserem eigenen Verstand zu leben. Unsere Freunde vom Außenministerium haben kürzlich einen echten Durchbruch erzielt, indem sie Russland im außenpolitischen Konzept als Staat einer [eigenen] Zivilisation[1] bezeichneten. Ich möchte hinzufügen – eine Zivilisation der Zivilisationen, die sowohl nach Norden als auch nach Süden, nach Westen und nach Osten offen ist. Die Hauptrichtung der Entwicklung ist jetzt der Süden, der Norden und vor allem der Osten.»
In dieser ideologischen Dimension liegt Karaganow damit wieder auf der Linie, wie sie von Putin verkörpert wird.
Die hier nur angedeuteten Prozesse machen deutlich, dass die russländische Führung durchaus mit Blick auf die Zukunft arbeitet. Die kurzfristige Formierung der russländischen Gesellschaft soll durch Repression, die langfristige durch Ideologie gesichert werden.
Stärke des Staates durch Schwäche der Opposition
Die Stärke des Systems Putin liegt, und das zeigten die Vorgänge um Prigoschin erneut, zum einen in der Schwäche und Zersplitterung der Opposition. Zum anderen aber wurzelt sie in deren historischer Eigenart. Das, was im Westen an Sozialstaatlichkeit und Liberalität noch besteht, ist heute weitgehend eine Referenz an vergangene Zeiten. Frühere Machtverhältnisse sind im politischen System und in der politischen Kultur fixiert und wirken so, trotz des Rückgangs der Macht der Arbeiterbewegung, fort. Das ist in den Augen Karaganows schlicht «Dekadenz». Die Zerschlagung der Sowjetunion und der damit verbundene, extrem-neoliberale Umsturz auf der einen und die neoliberale Konterrevolution im Westen auf der anderen Seite haben eine Wiederholung des westeuropäischen Weges für Russland und die anderen Nachfolgestaaten der UdSSR unmöglich gemacht. Trotzdem definieren die verschiedenen oppositionellen Strömungen ihre Zukunftsvorstellungen auf der Grundlage dieses de facto nicht mehr gangbaren Weges. In dieser Hinsicht ist die russländische Opposition nicht weniger ratlos als die westliche.
Auf dem Telegram-Kanal Nevojna (Keinkrieg), betrieben von Kriegsgegner*innen verschiedener Richtungen, wurden die Söldnertruppen aufgefordert, die Macht zu ergreifen, da man mit ihnen besser verhandeln könne, als mit der gegenwärtigen Führung. Der gefallene Oligarch Michail Chodorkowski, einer der Köpfe der liberalen Exilbewegung, sah gar eine revolutionäre Situation, die man verpasst habe. Fragt sich nur, eine Revolution wohin und durch wen? Unlängst warnte Chodorkowski auch vor der Zerschlagung Russlands in viele Kleinstaaten, wie sie Teile der Opposition fordern. Aber während die Option eines Bürgerkriegs für 24 Stunden vielleicht in der Luft gelegen haben mag, so ganz sicher nicht die einer Revolution.
Vor der Prigoschin-Affäre hatte Alexej Nawalny (bzw. sein Kreis) zu einer Kampagne gegen den Krieg und das politische System im Vorfeld der Wahlen aufgerufen. Seine Lösung verlässt den Rahmen des Systems lediglich auf der Ebene der Eliten und der klassischen bürgerlichen Rechte; die sozialökonomischen Grundlagen des gegenwärtigen Regimes greift er nicht an. Er erreicht indes nur ein politisch aktives, aber marginales Publikum in Russland selbst (unter Exilant*innen vermutlich ein größeres). Ob die Zeit für oder gegen ihn arbeitet, ist nicht einfach zu beantworten. Dagegen spricht, dass die Arbeitskämpfe, aber auch die Auseinandersetzungen in der Umwelt- und Regionalpolitik, über politische Reformen, wie sie ihm vorschweben, hinausweisen.
Die Kommunistische Partei (KPRF), die den Krieg in einen sozialistischen Umsturz münden lassen will, stellt sich in der Krise demonstrativ hinter den Präsidenten. Die Linksfront, ein Verbündeter der KPRF, fordert im Interesse des Sieges im Krieg eine Vereinigung der linkspatriotischen Kräfte und die Bildung einer Koalitionsregierung unter deren Beteiligung. Gerechtes Russland wird bei der Präsidentschaftswahl Putin unterstützen.
Die auf dem Moskauer akademischen Wirtschaftsforum Anfang Juni versammelten, zu einem bedeutenden Teil sozialstaatlich orientierten, Wissenschaftler*innen konnten lediglich an eine Reform des Staates appellieren. In der Februar-Ausgabe der linken Zeitschrift «Alternativy» veröffentlichten A. Buzgalin, K.A. Chubiev und D.B. Epstejn einen Artikel, in dem aus linker Sicht ein entsprechendes Minimalprogramm der wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes vorgeschlagen wird, das die Intentionen der auf dem Forum anwesenden Wissenschaftler*innen treffen dürfte. Die Autoren gelten als Vertreter der postsowjetischen Schule des Marxismus, ihre Vorschläge orientieren auf eine «Resozialisierung der russländischen Ökonomie». Es gehe um eine Strategie ökologisch, sozial und kulturell orientierter Reformen, die auf eine systemische Transformation der sozialökonomischen Beziehungen orientiert sind, nicht nur um einzelne Korrekturen in der Wirtschaftspolitik. Im Kern orientieren sich ihre Vorschläge am nordischen Sozialstaatsmodell. Sie verweisen auf die Literatur, in der entsprechende Erfahrungen mit dem Modell aufgearbeitet werden; sie zeige, auf welche Weise in der Praxis strategische Planung, aktive Industriepolitik, Sozialisierung des Eigentums, Entbürokratisierung der Leitung, Maßnahmen zur Verminderung sozialer Ungleichheit und Ähnliches mehr realisiert werden könnten. Das sei auch die Antwort auf die Frage, ob eine praktische Verwirklichung dieser Schritte überhaupt möglich sei. Offen bleibt indes die Frage, wer denn nun den Staat zu einem derartigen Kurswechsel bewegen könnte.
Nichts ist entschieden
Die gescheiterte Revolte Prigoschins hat nichts entschieden. Sie war ein Element des gesellschaftspolitischen Suchprozesses und der Auseinandersetzungen um die Richtung des gesellschaftspolitischen Umbaus. Sie als «Inszenierung» zu betrachten, ist abwegig.
Vielmehr macht der Vorgang deutlich, dass derzeit in der Führung die Orientierung auf einen langfristigen konservativen Modernisierungsprozess dominiert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es daher auch eher unwahrscheinlich, dass der Prigoschin-Coup als «Generalprobe» für ähnliche Aktionen betrachtet werden kann.
Ob das so bleibt, ist offen. Nichts ist entschieden. Der Prozess hat bisher keine innere Stärke, sondern wird von der Schwäche der Oppositionen gestützt. Daher bleiben Prigoschin und andere ultranationalistische Kräfte einstweilen ein – wenn auch eher peripherer – Teil des Systems. Klar ist nur eines: Jeder Tag des Krieges wird von der russländischen Führung als Bestätigung des eingeschlagenen Weges betrachtet werden. Das Fehlen von Ansatzpunkten für eine Friedenslösung wird als Versuch gedeutet, Russland in der subalternen Position eines billigen Rohstofflieferanten und willigen Absatzmarktes zu halten, in die das Land im Ergebnis der nach westlichen Rezepten durchgesetzten Schocktherapie der 1990er Jahre geraten war. Von diesem Modell haben sich der Kreis um Putin und dessen Anhängerschaft politisch, wirtschaftlich und ideologisch gelöst. Ob sich die von ihnen entwickelte Alternative behaupten kann, bleibt offen.
[1] Die direkte Übersetzung des von Karagnow zitierten Begriffs «государство-цивилизацией» als «zivilisierter Staat» trifft den Sinn nicht, daher hier «Staat einer [eigenen] Zivilisation».