Am 25. Juli 2023 wurde in Russland ein Verfahren gegen den international bekannten linken Intellektuellen Boris Kagarlickij wegen «Rechtfertigung des Terrorismus» eingeleitet. Seine Verhaftung hat in Russland ein unerwartet breites Echo ausgelöst. Vertreter*innen verschiedener politischer Spektren auch jenseits der Linken reagierten auf seine Verhaftung und Anklage. Dazu gehören die Russländische sozialistische Bewegung, die «Sozialdemokraten Russlands» die Gewerkschaft der Lieferfahrer und Kuriere, das Navalny-nahe Medienportal Meduza und neben anderen Telegram-Kanälen auch der kremlnahe Nezygar‘. Von der Kommunistischen Partei der Russischen Förderation (KPRF) und ihren Verbündeten ist nichts zu hören.
Initiiert wurde die Untersuchung gegen Kagarlickij durch den Geheimdienst der Republik Komi im Nordwesten Russlands, der unter Oppositionellen dafür bekannt ist, dass sein Handeln oft den Ausgangspunkt für ähnliche Aktionen im ganzen Land bildet. Es wird allgemein befürchtet, dass sich nun eine neue, stärkere Repressionswelle gegen die Linke im Allgemeinen anbahnt. Im Zusammenhang mit der Untersuchung gegen Kagarlickij wurde bereits eine Reihe anderer linker Aktivist*innen verhört. Mit Michail Lobanow und Jewgeni Stupin waren in den vergangenen Monaten bereits zwei andere bekannte Linke mit ähnlich fragwürdigen Anschuldigungen konfrontiert worden. Was die Drei vereint ist ihr Bestreben, eine breite linke Bewegung zu schaffen.
Kagarlickij setzt sich seit Jahrzehnten als Publizist, Wissenschaftler und Aktivist immer wieder mit dem Charakter des russländischen politischen Systems und den damit verbundenen Herausforderungen an die linken Bewegungen im Lande auseinander. In der Sowjetunion gehörte er zu den linken Dissidenten, was ihm Verurteilung und Haft einbrachte. In den Zeiten der Perestroika und den frühen 1990er Jahren war er politisch aktiv, arbeitete für Gewerkschaften und war an der Gründung der «Partei der Arbeit» beteiligt. Während dieser Zeit war er an verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen in Lehre und Forschung tätig. Anfang der 2000er war er an der Gründung des Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen (IGSO) und der Zeitschrift Levaja Politika (Linke Politik) führend beteiligt. Schließlich entwickelte er mit Rabkor ein Internetportal (Website, Youtube, Telegram-Kanal…), in dem Wissenschaft und politischer Aktivismus zusammenfließen. Der Name ist Programm. Er leitet sich von der Bezeichnung für Arbeiter*innen ab, die zu sowjetischen Zeiten als sogenannte Arbeiterkorrespondenten wirkten: RABotschie KORrespondenty. International war und ist er gut vernetzt, wie die zahlreichen Reaktionen auf seine Verhaftung aus den verschiedenen internationalen linken Bewegungen zeigen.
Die Breite seiner Interessen und Aktivitäten erklärt sicherlich, warum seine Verhaftung so viel Aufmerksamkeit erregte. Auch für Gruppierungen, die seinen marxistisch geprägten Ansatz nicht teilen, ist er in seiner analytisch fundierten Opposition zu den herrschenden Verhältnissen ein wichtiger Bezugspunkt. Das Vorgehen gegen Boris Kagarlickij kann daher als ein weiterer Schlag gegen die letzten Möglichkeiten gewertet werden, gesellschaftliche Probleme in Russland auch nur zu benennen und zu analysieren. Die Aktion hat schlaglichtartig das Maß an alltäglicher Repression deutlich gemacht, der Kriegsgegner*innen, Feminist*innen, LGBT und Oppositionelle verschiedener politischer Richtungen heute in Russland ausgesetzt sind. Die Solidarität mit Kagarlickij sollte daher auch die vielen politischen Gefangenen und Flüchtlinge in und aus Russland einschließen, die nicht über das Privileg eines bekannten Namens verfügen.