Interview | Deutsche / Europäische Geschichte - Geschlechterverhältnisse - Feminismus «Gemeinsam sind wir unerträglich. Die Frauenbewegung in der DDR»

Judith Geffert und Ulrike Hempel betrachten Feminismus aus einer ostdeutschen Perspektive

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Judith Geffert zur Ausstellung «Gemeinsam sind wir unerträglich. Die unabhängige Frauenbewegung in der DDR»
«Wir stehen heute teilweise vor ähnlichen Herausforderungen, wie die Akteur*innen damals: unsichere Zeiten, steigende rechtsradikale Gewalt, die Zerstörung (queer-)feministischer Errungenschaften und mühsam aufgebauter Strukturen.»
​​​​​​​Judith Geffert  Foto: Jasper J. Maurer | www.jasperjmaurer.com (Collage: RLS)

Erstmalig erzählt die Wanderausstellung «Gemeinsam sind wir unerträglich. Die unabhängige Frauenbewegung in der DDR» aus Sicht der Akteur*innen über die unabhängige DDR-Frauenbewegung, kuratiert von Ulrike Rothe, Judith Geffert und Rebecca Hernandez Garcia, im Auftrag der Agentur für Bildung, Geschichte und Politik e.V.  Seit 1980 kamen in der DDR Frauen in informellen Kreisen zusammen. Bald darauf wurden sie zu einer DDR-weit agierenden Bewegung, ihre Akteur*innen saßen im demokratischen Aufbruch der Jahre 1989 und 1990 an den Runden Tischen. Die Ausstellung füllt die frauenpolitische Leerstelle in der vorherrschenden Erzählung über die DDR-Bürgerbewegung und die Friedliche Revolution. Sie würdigt das lange vergessene aktivistische Engagement der Akteuri*nnen dieser Bewegung. Mit der Co-Kuratorin der Ausstellung Judith Geffert sprach Ulrike Hempel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ulrike Hempel: Die Vernissage der Ausstellung «Gemeinsam sind wir unerträglich. Die unabhängige Frauenbewegung in der DDR» fand im Dezember 2023 in der Gethsemanekirche in Berlin statt. Seit der Wende sind mehr als 30 Jahre vergangen. Warum hat die öffentliche Aufmerksamkeit für die Akteur*innen Ihrer Meinung nach so lange gebraucht?

Judith Geffert: Unsere Ausstellung ist nicht das erste Projekt zur Sichtbarmachung der unabhängigen Frauenbewegung in der DDR. Allerdings bleiben die bisherigen Ausstellungen oft regional verankert und zeigen nur Teilaspekte der Bewegung. Unsere Ausstellung ist die erste, die die unabhängige Frauenbewegung aus einer überregionalen und möglichst umfassenden, vielfältigen Perspektive erzählt.

Judith Geffert, geboren 1989 in Magdeburg, ist freie Radio-Autor*in und Kulturwissenschaftler*in. In ihrer Masterarbeit forschte sie zu lesbischer Gegenöffentlichkeit in der späten DDR und der Umbruchszeit. Sie produziert Features und dokumentarische Podcasts für Deutschlandradio, rbb und freie Radios. 

Aber auch damit stehen wir auf den Schultern unserer Vorgänger*innen: Die damals aktiven Frauen haben schon in den 80er Jahren begonnen, Dokumente zu sammeln und zu archivieren. Samirah Kenawi, die in verschiedenen Frauen- und Lesbengruppen aktiv war, hat das Bewegungsarchiv GrauZone gegründet und mit dem Buch «Frauengruppen in der DDR der 80er Jahre» bereits 1995 eine umfassende Zusammenstellung von Dokumenten dieser Bewegung vorgelegt. Auch die verschiedenen Frauenzentren, die sich ab 1989 in allen größeren ostdeutschen Städten gründeten, haben Archive angelegt und einzelne Ausstellungen kuratiert. All das unter prekären Bedingungen, meist ehrenamtlich und unter dem Radar.

Viele Dokumente und Informationen sind also zugänglich, die Akteur*innen arbeiten schon seit den 90ern an ihrer Sichtbarkeit. Warum gab es bisher keine umfassende überregionale Aufarbeitung? Ich kann mir vorstellen, dass es eine Mischung aus fehlender Finanzierung und Ignoranz sowohl in der Forschung als auch in der Erinnerungskultur ist. Die Geschichten von Frauen, von Lesben, von queeren Menschen, von Schwarzen Menschen, von Migrant*innen und Juden*Jüdinnen sind in so vieler Hinsicht marginalisiert – vor allem, wenn es um widerständige Bewegungen geht, die gängige Erzählungen infrage stellen. Dass es in der DDR überhaupt eine Frauenbewegung gab, wurde in der Bewegungsforschung lange negiert - weil dies an westdeutschen Standards gemessen wurde. Dabei wurde außen vorgelassen, dass unter den Bedingungen einer Diktatur gar nicht die Möglichkeit bestand, auf gleiche Weise zu agieren, wie feministische Bewegungen in Westdeutschland oder den USA. Erst in den letzten Jahren hat sich etwas verändert, nicht zuletzt aufgrund großer Anstrengungen von Akteur*innen wie Samirah Kenawi und Peggy Piesche, sowie von Historiker*innen wie Jessica Bock, Steffi Brüning und Maria Bühner.

Diese Geschichten aufzuarbeiten ist zeit- und ressourcenintensiv und benötigt daher eine gute Finanzierung. Kontakt zu Zeitzeug*innen aufzubauen und zu halten, sie überhaupt erst einmal zu finden, Zusammenhänge zwischen den vielen Dokumenten herzustellen, die teilweise ohne weitere Informationen in den verschiedenen Archiven liegen, das dauert. Wir haben fast zwei Jahre recherchiert, bevor wir überhaupt mit dem Schreiben anfangen konnten. Und trotzdem ist da noch ganz viel, was wir gar nicht behandeln konnten.

Hinzu kommt das mangelnde mediale Interesse – ich arbeite seit vier Jahren zur ostdeutschen Frauenbewegung, als Autor*in und Forscher*in, und muss immer wieder erstmal erklären, warum es überhaupt interessant und wichtig ist, Feminismus aus einer ostdeutschen Perspektive zu betrachten. Das hängt auch damit zusammen, dass viele Redaktionen und auch Universitätsprofessuren mit Menschen besetzt sind, die keinen Bezug zu Ostdeutschland haben. Durch das fehlende Wissen gibt es eine geringere Vorstellungskraft davon, wie viel Potential dieses Thema mitbringt.

Was erwartet Besucher*innen der Wanderausstellung, die jetzt im März 2024 gerade vom Stasimuseum Berlin in der Ruschestraße ins Stasi-Unterlagen-Archiv nach Leipzig gewandert ist und dort ab dem 7. März zu sehen ist?

Viele persönliche und offizielle Dokumente, Fotos, Zitate, Zeichnungen und Interviews, anhand derer wir die Geschichten der Gruppen und einzelner Akteur*innen erzählen. Wir haben die Ausstellung in vier Kapitel unterteilt: Von den ersten Impulsen und Gründungen von Frauen- und Lesbengruppen leiten wir über zu ihren Handlungsspielräumen in der begrenzten Öffentlichkeit einer sozialistischen Diktatur. Hier wird es auch um staatliche Repressionen und Überwachung einzelner Gruppen durch die Staatssicherheit gehen. Im dritten Kapitel, unserem Herzstück, stellen wir eine Auswahl an Gruppentreffen, Themen, Positionen und ersten Strukturen vor, die sich im Laufe der 80er Jahre entfalteten. In diesem Kapitel wird klar, warum wir explizit von einer Bewegung sprechen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den neuen Aufbrüchen und Herausforderungen, die der Herbst 89, der Mauerfall und die beginnenden 90er Jahre mit sich brachten. Zu diesem Thema könnte eine ganz eigene Ausstellung bestückt werden, diese Zeit ist auch noch nicht ansatzweise aufgearbeitet. Wir stellen in dem Kapitel Gruppen vor, die sich in dieser Zeit gründeten und mit starken feministischen Positionen in die Kommunal- und später Bundestagswahlen zogen. Und wir zeigen auch, was auf dem Spiel stand: von zunehmender rechter Gewalt, hoher Arbeitslosigkeit bis hin zur Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, das in der DDR galt.

Sie haben die Ausstellung co-kuratiert. Was genau war Ihre Aufgabe und warum war und ist Ihnen das wichtig?

In der Recherche war ich vordergründig für Sachsen und Thüringen zuständig. Beide Regionen waren Zentren der Frauenbewegung, in denen viele sehr aktive und gut vernetzte Gruppen angesiedelt waren. Wir konnten aus Platzgründen nicht alle diese Gruppen zeigen. Dementsprechend war mir wichtig, eine vielfältige Auswahl zu treffen und ein möglichst großes Themenspektrum abzudecken. Viele Gruppen haben sich im Privaten getroffen und sind kaum an die Öffentlichkeit gegangen. Dass dies bereits ein politischer Akt ist, wollte ich deutlich machen. Claudia-Morca Bogenhardt, die in mehreren Erfurter Gruppen aktiv war, sagte mir: «Die Revolution begann in mir selbst. Zu merken, ich vertraue der anderen Frau…» So ging es vielen Frauen, die in einer Frauengruppe erstmals die Erfahrung machten, frei über das zu reden, was ihnen wichtig ist, ohne dafür verurteilt oder klein gemacht zu werden. Aus diesem Bewusstsein konnten dann politische Positionen erwachsen und ein feministisches Empowerment stattfinden. Dass sich im Herbst 1989 sofort eine starke feministische Bewegung herausbilden konnte, ist auch dieser vorherigen Bewusstseinsbildung in den Gruppen zu verdanken.

«Gemeinsam sind wir unerträglich» – so lautete der Spruch auf einer Postkarte der Gruppe «Lesben in der Kirche» (LiK), die sich 1982 in Ost-Berlin gründete. Interessant ist, dass Sie in die Geschichte der lesbischen Gruppen in der DDR Einblick geben können: Zwar war Homosexualität in der DDR weitgehend entkriminalisiert, aber das gesellschaftliche Tabu blieb bestehen. Daher fand das schwul-lesbische Leben vor allem im Privaten statt.

Für mich war es sehr wichtig, die Rolle der lesbischen Gruppen in der Frauenbewegung sichtbar zu machen. Sie bewegten sich sowohl in der Homosexuellenbewegung, in der auch viele schwule cis Männer aktiv waren, als auch in den Frauengruppen. Dort gab es oft Diskussionen um die Positionen, die Lesben und Schwule bzw. Lesben und Heteras in den Gruppen einnehmen. Viele Lesben haben sich irgendwann unabhängig von Schwulen getroffen und organisiert, aber trotzdem weiter mit ihnen zusammengearbeitet. Ich finde das spannend, weil es in der DDR nicht eine solche Spaltung der Bewegung gab, wie das in vielen westlichen Ländern in den 1980er Jahren bereits der Fall war. Aufgrund der Versammlungsverbote in der DDR konnten sich DDR-kritische Gruppen, zu denen die Frauen- und die Homosexuellengruppen, sowie Friedensgruppen, Umweltgruppen und Punks gehörten, vor allem in den Räumen der evangelischen Kirche treffen. Dort kamen sie mit Themen wie der feministischen Theologie in Berührung und tauschten sich zum Beispiel über Frauenbilder in der Bibel aus. Die oppositionellen Gruppen beeinflussten sich so gegenseitig. Eine Ausdifferenzierung der Bewegung setzte dann mit den Umbrüchen der 90er Jahre ein. 

Lesben konnten gemeinsam mit schwulen cis Männern auch einige konkrete Veränderungen erreichen. So wurde der diskriminierende Paragraph 151, der einvernehmlichen Sex zwischen Homosexuellen erst zwei Jahre später legalisierte als unter Heterosexuellen, 1989 abgeschafft. Und auch den wissenschaftlichen Diskurs, der Homosexualität pathologisierte, prägten sie, indem sie sich aktiv einmischten. So konnten sie bewirken, dass nicht über Lesben und Schwule geforscht wurde, sondern mit ihnen.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher im Zusammenhang mit der Ausstellung besonders berührt?

Ganz klar die Gespräche mit den Zeitzeuginnen, die sich auch heute noch auf verschiedene Weisen für Gleichberechtigung und gegen diskriminierende Machtstrukturen engagieren. Ich habe zwei dreistündige Interviews geführt, mit Ina Röder Sissoko, die in den 80er Jahren die DDR-Lesbenbewegung und in den 90er Jahren die Schwarze Frauenbewegung maßgeblich mitgeprägt hat und mit Ulrike Quentel, die seit über 30 Jahren Gleichstellungsbeauftragte in Eisenach ist. Diese Begegnungen werde ich nicht vergessen – die Bereitschaft, mit mir zu sprechen, das Vertrauen, ein Stück weit Kontrolle über die eigene Erzählung abzugeben, sie wandern zu lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. 

Wir stehen heute teilweise vor ähnlichen Herausforderungen, wie die Akteur*innen damals: unsichere Zeiten, steigende rechtsradikale Gewalt, die Zerstörung (queer-)feministischer Errungenschaften und mühsam aufgebauter Strukturen. Beispielsweise wurden dem Leipziger Verein RosaLinde e.V., der von Schwulen und Lesben 1990 gegründet wurde und sich heute vor allem für queere Bildung und Beratung einsetzt, dieses Jahr massiv die Mittel gekürzt – eine Katastrophe, wenn man auf die kommenden Landtagswahlen in Sachsen und deren voraussichtliche Auswirkungen auf soziale und demokratiefördernde Projekte schaut. In den Gesprächen mit den Zeitzeuginnen habe ich gelernt, dass so viel Wissen da ist, so viele Strategien und Strukturen. Wir brauchen die Allianzen mit denen, die vor uns gekämpft haben und heute immer noch kämpfen mehr denn je. Ich möchte dieses Wissen weitertragen, das ist meine größte Motivation.

Was mich außerdem berührt, sind die Gespräche mit den Menschen, die die Ausstellung besuchen und selbst DDR-Erfahrungen haben. Eine Besucherin hat mir nach einer Führung erzählt, sie habe vorher Sorge gehabt, dass ich ihr erkläre, wie ihr Leben damals war. Glücklicherweise ist das nicht eingetroffen, sie fand die Führung sehr gut. Aber das zeigt mir, wie tief die Angst vor dem Blick von außen sitzt, wie viel Vertrauen da in den letzten 30 Jahren auch zerstört wurde. Das sollten wir alle besser machen.

Welche Strategien der unabhängigen Frauenbewegung der DDR können und müssen wir uns heute für unsere feministischen Ziele unbedingt vergegenwärtigen?

Wir leben heute in ganz anderen Zeiten und viele Bedingungen, unter denen die Akteur*innen damals gearbeitet haben, sind heute radikal anders. Wir haben viel mehr und vor allem schneller Zugang zu Informationen, wir kommen nicht mehr so häufig physisch zusammen, vieles spielt sich im Internet ab, die Kämpfe, die wir führen müssen, sind komplexer und vielfältiger geworden, unser Verständnis von Geschlecht hat sich verändert und Diskriminierungs- und Machtverhältnisse sind heute viel ausführlicher und besser analysiert. 

Ich denke, dass wir vor allem die Gemeinschaft, die Diskussionsfreude, den gegenseitigen Austausch wieder finden müssen. Das Zusammenkommen und gemeinsam Spaß haben war damals eine ganz wichtige Strategie – sich eine Welt schaffen, in der man so sein kann, wie man ist. Aber das war schon damals nicht so einfach und ist auch in Verletzungen und Frustration geendet, vor allem in den politischen Kämpfen der 90er Jahre. Trotzdem müssen wir füreinander solidarisch und offen bleiben. Wir müssen die Welt, die uns umgibt, vielschichtig und mehrdimensional sehen lernen und bereit sein, hinterfragt und überrascht zu werden, auch wenn das manchmal unbequem und unangenehm ist. In meinen Gesprächen mit den Zeitzeuginnen war ich immer wieder erstaunt, wie gut ihnen genau das in der heutigen Zeit gelingt und wie gut es tut, miteinander zu sprechen und vor allem einander zuzuhören.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Ulrike Rothe, Judith Geffert und Rebecca Hernandez Garcia, im Auftrag der Agentur für Bildung, Geschichte und Politik e.V. 

Sie wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung und des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Zur Ausstellung ist ein Begleitband beim Mitteldeutschen Verlag erschienen, hg. v. Ulrike Rothe und Rebecca Hernandez Garcia, Halle 2023