Hintergrund | Deutsche / Europäische Geschichte - Krieg / Frieden - Grundgesetz Das unabgegoltene Friedensgebot des Grundgesetzes

Nach 1945 sollte alles anders werden. Doch statt der Entmilitarisierung kam die «Wehrverfassung» und die Beteiligung an neuen Kriegen.

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Ingar Solty,

Nach dem KFOR-Einmarsch patroullieren deutsche Soldaten in einem Schützenpanzer durch die Stadt Prizren im Kosovo (30.7.1999). Foto: IMAGO / Christian Ditsch

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Europa, als die Anti-Hitler-Koalition unter den besonderen Opfern der Sowjetunion den Kontinent vom deutschen Faschismus befreite und der Krieg längst in die Reichshauptstadt Berlin zurückgekehrt war, fand am 19. April 1945 im KZ Buchenwald eine Gedenkfeier statt. Die Überlebenden des Konzentrationslagers nahe der Stadt Weimar, mit deren Namen die untergegangene erste Republik verbunden ist, schworen rund um einen provisorischen Obelisken, auf dem die geschätzte Zahl der toten Häftlinge (51.000) eingemeißelt war, den Schwur von Buchenwald: «Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.» Kommunistische Häftlinge änderten ihn einige Tage später in die häufig zitierte klassenkämpferische Fassung um, die «die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln» als Ziel formulierte.

Katastrophen waren historisch immer wieder Momente des «Nie wieder» und «Jetzt alles anders». Aus der Barbarei sollte die Zivilisation immer wieder neu entstehen. «Wo aber Gefahr ist, kommt das Rettende auch», dichtete Friedrich Hölderlin in seiner unvollendeten Patmos-Hymne. «Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag», heißt es bei Bertolt Brecht in seinem Theaterstück «Schwejk im Zweiten Weltkrieg». Als «Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten», adaptierte dies die Westberliner Band «Ton Steine Scherben».

Krieg als Destabilisierung von Herrschaft

Oft war die Barbarei, aus deren Überwindung das Neue, Bessere entspringen sollte, der Krieg. Es war im Ergebnis des Dreißigjährigen mit seinen grauenerregenden Verheerungen, das die Kriegsmüden den «Westfälischen Frieden» von 1648 aushandelten, der Grundlagen der heutigen Verrechtlichung des Krieges hervorbrachte. Dass es diese historische Verknüpfung zwischen Kriegsbarbarei und Zivilisationserneuerung gibt, steht im Zusammenhang mit der allgemeinen Dialektik des Krieges. Im Grunde jeder Krieg bringt an seinem Anfang eine vaterländisch-patriotische Stimmung hervor, insbesondere unter den nationalen Intellektuellen. Es entsteht ein Burgfrieden der Klassen und eine Wagenburgmentalität, die herrschaftsstabilisierend wirkt. Je mehr aber die persönliche Betroffenheit und Entbehrung zunehmen, Verwundung, psychische Zerrüttung, Verlust von Angehörigen und Einkommen, Teuerung und Hunger zu Buche schlagen und die Aussicht auf den versprochenen Sieg sich eintrübt, entfaltet sich – insbesondere im Ergebnis von verlorenen Kriegen – die Kriegsdialektik als die rapide Destabilisierung von Herrschaft.

Historisch ist ein bis heute wirksamer enger Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution (oder Revolte) belegt. Auf die französische Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1871 folgte die Pariser Kommune. Auf die Niederlage des russischen Zarenreichs im Krieg gegen Japan folgte die Russische Revolution von 1905. Der Erste Weltkrieg, der mit Pferden, Kanonen und Infanterie begann und mit Panzern, Luftkrieg und Giftgas endete, hatte zwischen 1916 und 1923 sozialistisch orientierte Antikriegsrevolutionen von Irland bis Ostasien zur Folge. Mit dem Sieg der Oktoberrevolution und der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im unterentwickelten und abhängigen Osten (und ihrem Scheitern im fortgeschritten kapitalistischen Westen) prägte diese «Urkatastrophe» auch das «kurze 20. Jahrhundert».

«Spirit of ‘45»

Auch nach 1945 sollte alles anders werden. Die Bevölkerungen in den kapitalistischen Zentren begriffen den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Krise und Krieg. Der Kapitalismus hatte zur Weltwirtschaftskrise von 1929 geführt, diese zum Faschismus und dieser zum Weltkrieg. Schon nach 1933 begünstigten in den USA starke Klassenkämpfe wie die Generalstreiks von San Francisco, Minneapolis und Toledo, Ohio und die Sitzstreiks in der Autoindustrie von Detroit und Flint, Michigan einen radikalen linkssozialdemokratischen «New Deal». Nach dem Krieg kamen im Zuge der Befreiung Osteuropas durch die Rote Armee und den polnischen Kämpfen gegen den Faschismus in ganz Osteuropa Sozialisten und Kommunisten an die Macht. In Italien und Frankreich avancierten die Kommunisten, die der wesentliche Faktor in den Widerstandsbewegungen gegen Faschismus und Besatzung gewesen waren, zu Massenparteien mit erheblichem gesellschaftlichem und politischem Einfluss. In Großbritannien kam im Sommer 1945 eine sozialdemokratische Labour-Regierung an die Macht und setzte im Kontext des «Spirit of ‘45» (Ken Loach) eine Politik der grundlegenden Erneuerung mit Sozialisierungsmaßnahmen und dem Aufbau eines starken Sozialstaats um. Und auch im postfaschistischen Deutschland wurden in allen Besatzungszonen die wiederzugelassenen Organisationen der Arbeiterbewegung – die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, die Kommunistische Partei – zu millionenstarken Massenorganisationen. Der antikapitalistische Geist in der Bevölkerung zeigte sich in der hessischen Volksabstimmung zur Aufnahme des Paragraphen 41 zur Sozialisierung der Schwerindustrie (Bergbau, Eisen, Stahl), Energieversorgung und im Verkehr in die am 1. Dezember 1946 verabschiedete Landesverfassung und selbst die Christdemokratie musste diesem Geist in ihrem «Ahlener Programm» Rechnung tragen, das eine «Gemeinwirtschaft» propagierte. Er prägte auch noch das Grundgesetz, obschon entstanden längst unter den Bedingungen der deutschen Teilung, des Kalten Kriegs und einer weitgehenden ideologischen Kontinuität des nazistischen Antikommunismus.

Das Grundgesetz ist nicht nur bis heute offen im Hinblick auf die Wirtschaftsverfassung. Es war der Marburger Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth, der in seiner Kontroverse mit Ernst Forsthoff einen verfassungskonformen Weg zum Sozialismus auf der Grundlage insbesondere der Artikel 14 und 15 begründete. Und so wie die sozialistische Tendenz im Grundgesetz die Reaktion auf die ökonomische Katastrophe des liberalen Kapitalismus mit ihren faschistischen Folgen war, so ergab sich aus der Erfahrung mit dem neuerlichen Weltkrieg und seiner insgesamt fast 80 Millionen Toten – davon 5,3 Millionen Soldaten und 1,2 Millionen Zivilisten auf deutscher Seite – das Ziel, die Wiederholung von Geschichte auszuschließen und den Frieden auch durch die Verfassung zu sichern.

Von der Entmilitarisierung zur Wiederbewaffnung

Nach Kriegsende hatten sich 50 Staaten in den «Vereinten Nationen» zusammengeschlossen und Ende Juni 1945 ihre Charta unterzeichnet, die ein radikales Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen beinhaltet. Der Artikel 51 erlaubt ausschließlich das Recht auf militärische Selbstverteidigung. Wenige Wochen später beschlossen die vier Besatzungsmächte auf der Potsdamer Konferenz Deutschlands vollständige Demilitarisierung. Das Grundgesetz von 1949, obschon längst unter dem Eindruck des Kalten Kriegs zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, beinhaltete bis dahin keinerlei «Wehrverfassung», d.h. es gab keinerlei Bestimmungen zum Aufbau von Streitkräften. Verankert wurde nur das Recht auf «gegenseitige kollektive Sicherheit» (Art. 24 Abs. 2 GG). Im November 1949 wurde auch im Rahmen einer Außenpolitikdebatte im Bundestag die «Wiederbewaffnung» noch mehrheitlich abgelehnt.

Bemerkenswert ist, dass das Friedensgebot im Grundgesetz bereits in einer Präambel verankert ist. Darin heißt es:

«Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.»

Im Artikel 1 heißt es weiter:

«(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.»

Konkret erklärt das Grundgesetz nach Artikel 26 «Handlungen» für «verfassungswidrig», die «geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören.» Verfassungswidrig ist «insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten». Zuwiderhandlungen «sind unter Strafe zu stellen.» Im Artikel 26 Absatz 2 heißt es: «Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.»

Es lohnt, dieses Friedensgebot mit der Realgeschichte der BRD, insbesondere nach dem 1990 erfolgten Beitritt der DDR, in Bezug zu setzen. Deutschland beteiligte sich 1999 an der völkerrechtswidrigen Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, unterstützte wenigstens in Teilen auch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und ihrer «Koalition der Willigen» im Irak und war maßgeblicher Akteur auch im desaströsen Afghanistankrieg. Auch liefert Deutschland Waffen in alle Welt, heute unter anderem an das islamistisch-autoritäre Saudi-Arabien, das mit ihnen einen verbrecherischen Krieg im Jemen geführt hat, und an eine in weiten Teilen rechtsextreme Regierung in Israel, die die barbarischen Terroranschläge der islamistischen Hamas vom 7. Oktober 2023 für einen nicht minder barbarischen Krieg im palästinensischen Gaza nutzt und bei seiner KI-gestützten Kriegführung, die extrem hohe Zahlen an Ziviltoten gezielt einkalkuliert, in erheblichem Maße Kriegsverbrechen begeht.

Der Preis der Westintegration

Dass die Wirklichkeit von heute mit den Zielen der Verfassungsgründer immer weniger zu tun zu haben scheint, hat mit dem (ersten) Kalten Krieg zu tun, der fast unmittelbar auf den heißen Zweiten Weltkrieg folgte und die ständige Angst vor dem Atomkrieg beinhaltete: Die Vereinigten Staaten suchten in der Rekonstruktion des Kapitalismus im Westen ihr Seelenheil. Die Annahme, dass allein die Kriegswirtschaft die «Great Depression» beendet hatte, war verbreitet. Der Sorge vor einem Rückfall in die «Great Depression» begegnete die US-Regierung mit der kapitalistischen Expansion nach Europa. Der Kapitalismus wurde zunächst in der «Grand Area» (Laurence H. Shoup/William Minter) des «Westens» rekonstruiert. Verbunden wurde dies mit dem aggressiven Ziel des antikommunistischen Rollbacks im Osten, das auf dem im Sommer 1945 in Hiroshima und Nagasaki bewiesenen nuklearen Vorsprung beruhte. Auf der Seite der Bundesrepublik beinhaltete dies die «Hallstein-Doktrin» (die den Abbruch diplomatischer Beziehungen zu jedem Staat nach sich zog, der mit der DDR solche unterhielt) und dazu die Nichtanerkennung auch der Oder-Neiße-Grenze.

Die westlich besetzten Zonen wurden nun «westlich» integriert. Der Preis hierfür war (1.) die deutsche Teilung, die mit der Einführung der D-Mark 1948, der Gründung der BRD 1949 und der Ablehnung der «Stalin-Note» von 1952 Endgültigkeit besaß, (2.) die kapitalistische Systemkontinuität entgegen dem antikapitalistischen Klima, (3.) die Personalkontinuität wesentlicher Teile der NS-Eliten in der BRD (Globke, Oberländer, Kiesinger, Filbinger usw.), (4.) das Fortleben des nazistischen Antikommunismus und (5.) eben auch die Remilitarisierung der BRD. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1953 wurde die Bundesrepublik Deutschland zwei Jahre später in die NATO aufgenommen. Deren Funktion beschrieb ihr erster Generalsekretär, Baron Hastings Ismay, mit: «to keep the Soviets out, the Americans in and the Germans down.»

Im Zuge von Westbindung und Remilitarisierung, die vom Koreakrieg (1950-1953) befeuert wird, entsteht 1956 auch eine Wehrverfassung, die sich über verschiedene Ergänzungsartikel im Verfassungstext verteilt. 1954/1955 war in den «Pariser Verträgen» der Beitritt der BRD zum nordatlantischen Militärbündnis NATO vorbereitet worden. Die «Wehrverfassung», die bis heute Gültigkeit besitzt (sie wurde nur im Rahmen der «Notstandsgesetze» über den Einsatz der Bundeswehr im Innern modifiziert), trug den neuen geopolitischen Fakten dadurch Rechnung, dass nun der Aufbau von «Streitkräften» erlaubt und in Artikel 87a GG das Recht auf «individuelle und kollektive Verteidigung» aufgenommen wurde. Auch die «Wehrverfassung» fußte noch auf der Weltkriegserinnerung, insofern die neue Bundeswehr als «Parlamentsarmee» konzipiert und strikt auf die «Landesverteidigung» festgelegt wurde (Art. 87a GG). Mit ihr verbunden war aber nun die Möglichkeit des Beitritts zu einem militärischen Verteidigungsbündnis wie der NATO.

Die Adenauer-Regierung betrieb die Aufrüstung zielstrebig. Der Geist von 1945 und der Geist von 1955 konnten gegensätzlicher kaum sein. Hatte Franz Josef Strauß, ein Vertreter der «Stahlhelm-Fraktion» in CDU/CSU, noch 1949 davon gesprochen, dass «Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem die Hand abfallen» solle, forderte er als Verteidigungsminister ab 1956 nun die Atombewaffnung nach dem Motto: «Ein einziger Atomsprengkopf ersetzt eine ganze Brigade». Gegen diese Bestrebungen entstand 1957 der massive Widerstand der «Kampf dem Atomtod»-Bewegung. Heute fordern mit einem herzerfrischenden «Ja zur Atombombe!» (Ulrike Herrmann) grüne Intellektuelle und Ex-Außenminister Joschka Fischer dieselben wieder. Aber damals bildete die «Kampf dem Atomtod!»-Bewegung den Grundstein für die starke Friedensbewegung der nächsten drei Jahrzehnte.

Mit der «Wehrverfassung» von 1956 sind im Grundgesetz zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte zur Sicherheitspolitik verankert, die bis heute in einem Spannungsverhältnis stehen. Die entscheidende Frage ist, ob die NATO – vergleichbar mit der UNO – als das zu gelten hat, wofür sie gegründet wurde: ein Militärpakt für die «individuelle und kollektive Verteidigung», oder sie als ein «System gegenseitiger kollektiver Sicherheit» gelten kann.

Die bisherigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts spiegeln dieses Spannungsverhältnis wieder. So hat das BVG erstmals in einem Urteil vom 12. Juli 1994 die Out-of-Area-Kriegseinsätze der Bundeswehr damit gerechtfertigt, dass die NATO nicht bloß, wie in der Vergangenheit geurteilt, ein Verteidigungsbündnis sei (was Krieg außerhalb des NATO-Territoriums verbieten würde), sondern auch ein «System gegenseitiger Sicherheit». Ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister, Peter Struck, sprach 2002 dann in Bezug auf den Afghanistankrieg davon, dass die «Sicherheit der Bundesrepublik heute auch am Hindukusch verteidigt» wird.

«Die unsichtbare Hand wird nie ohne die unsichtbare Faust funktionieren»

Die Ziele, die zu verwirklichen die Buchenwald-Häftlinge schworen, blieben uneingelöst. Der Geist von 1945 ist unabgegolten. Nicht nur wurde – anders als in Buchenwald geschworen – nur der allergeringste Teil der Nazis je für seine Mordtaten belangt und ist der Faschismus heute wieder da und schickt sich an, 2024 den Ministerpräsidenten von Thüringen zu stellen. Auch im Hinblick auf die «neue Welt des Friedens» sieht es düster aus. Die Hoffnung zerschlug sich schon mit dem Beginn des Kalten Kriegs. Deutschland wurde Frontstaat, in zwei Staaten in Systemkonkurrenz geteilt und wäre wesentlicher Schauplatz eines atomar geführten Dritten Weltkriegs gewesen. Auch nach Ende des Kalten Kriegs 1989/1991 keimte die Hoffnung auf die Friedensdividende nur kurz. Die weltweiten Rüstungsausgaben gingen nur bis 1998 zurück. Seither stiegen sie immer weiter an. Längst ist ihr Niveau wieder höher als im Kalten Krieg. Der Zweite Golfkrieg 1990/91 und die (Bürger-)Kriege, die sich aus dem Zerfall der Sowjetunion ergaben, waren offensichtlich keine Relikte des alten Kalten Kriegs, sondern längst Vorboten einer neuen Weltordnung, in der das Völkerrecht erodiert und das Recht des Stärkeren regiert. Schon ab den 2000er Jahren zeigte sich, dass die Globalisierung des Kapitalismus zunehmend nur militärisch aufrechtzuerhalten und durchzusetzen war. «Die unsichtbare Hand des Marktes”, antizipierte schon 1999 der New York Times-Kolumnist Thomas L. Friedman, «wird nie ohne die unsichtbare Faust funktionieren. McDonald’s kann ohne McDonnell Douglas, den Hersteller der F-15[-Kampfflugzeuge], nicht gedeihen. Und die unsichtbare Faust, die die Welt für die Technologien des Silicon Valley sichert, nennt sich die United States Army, die Air Force Navy und das Marine Corps.»

Dieser Geist regiert heute auch in Deutschland. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler musste am 31. Mai 2010 noch seinen Hut nehmen, nachdem er neun Tage zuvor im Interview im Deutschlandfunk gesagt hatte: «Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.» Nicht einmal vier Jahre später machte es sich sein mittelbarer Nachfolger Joachim Gauck unter dem Beifall der bürgerlichen Presse zur Aufgabe, gegen eine liberale «glückssüchtige Gesellschaft» zu Felde zu ziehen und einem neuen «imperialen Realismus» (Frank Deppe) von der «neuen Macht», aus der «neue Verantwortung» entstünde, das Wort zu reden. Ein Realismus, der darauf hinauslief, dass ein Land, das so «überdurchschnittlich globalisiert» sei, sich mehr – die USA entlastend – militärisch engagieren müsse, um «die Nachfrage aus anderen Märkten sowie den Zugang zu internationalen Handelswegen und Rohstoffen» zu sichern.

«Waffen, Waffen und nochmals Waffen»

Mit dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine hat sich die Militarisierung nach innen und außen beschleunigt: Hochrüstung bei gleichzeitigem Sozialabbau, Soldatendenkmäler, Veteranentage, die Bundeswehr für Kriegsübungen und als «Karriereberater» an Schulen, die Rekrutierung von Minderjährigen, die Indienstnahme der Hochschulforschung für die Rüstungsindustrie, öffentliche Gelöbnisse vor Parlamenten, eine allgemeine politische Kultur des «Waffen, Waffen und nochmals Waffen» (Anton Hofreiter), symbolisches Wiederrufen von Kriegsdienstverweigerungen, das Denken in der reinen Logik des Militärischen und militärischer Stärke, die Denunziation all derjenigen, die einst für «Wandel durch Annäherung» und Entspannungspolitik standen, ja – wenn es nach den größten Falken geht – sogar gegen die, die sich gegen den Irakkrieg stellten. Eine innere Zeitenwende verändert das Land. Auch wesentliche Lehren aus dem Weltkrieg wie die «Parlamentsarmee» werden, weil sie einer Politik, die das Ende der «militärischen Zurückhaltung» erklärt hat, im Weg stehen, geschliffen – auch durch die Schaffung einer EU-Armee, die keiner parlamentarischen Kontrolle mehr unterliegt.

Wo führt das hin? Die Gefahr einer Eskalation des Ukrainekriegs in und über ihre Grenzen hinaus ist groß. Die Gefahr eines direkten Kriegs zwischen den Atommächten USA und China im Westpazifik ist noch größer. Deutschland, das seine Fregatten «Bayern» und «Württemberg» vor die chinesische Küste schickt, wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou, wäre daran im Rahmen der «transatlantischen Arbeitsteilung» gegen China unmittelbar beteiligt.

Als sich die westdeutsche Remilitarisierung abzeichnete, schrieb Bertolt Brecht einen «offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller». Er beendete diesen mit: «Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.» Tatsächlich standen die Väter (und wenigen Mütter) des Grundgesetzes nur vor ihrer Aufgabe, weil schon nach dem ersten Weltenbrand von den Zielen der Entmilitarisierung nichts übriggeblieben war. Beim Reichsrätekongress vom Dezember 1918 beschlossen die zusammengekommenen Vertreter des Volkes neben weitgehenden Sozialisierungen eine radikale Entmilitarisierung, die auch die Demokratisierung der Armee und das Herausdrängen des Militärischen aus dem Alltag beinhaltete. Was man nicht wusste: schon einen Tag nach der Erklärung von Kriegsende und der republikanischen Neugestaltung des Landes hatte der eingesetzte neue Reichskanzler Friedrich Ebert (SPD) im Ebert-Groener-Pakt ein Bündnis mit dem alten Militärapparat beschlossen und damit die Grundlagen für den Wiederaufstieg des Militarismus gelegt, lange vor der Schwarzen Reichswehr und lange vor Hitler.

In ihrem großen Nachkriegsroman «Malina» (1971) lässt Ingeborg Bachmann eine ihrer Figuren sagen: «die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler.» Die große österreichische Schriftstellerin ist mit diesem ursprünglich von Antonio Gramsci stammenden Satz oft zitiert worden, weil er das Grundgefühl vieler Menschen beschreibt. Irgendwie ist, mit dem US- Belletristen William Faulkner gesprochen, «das Vergangene nicht tot», sondern «nicht einmal vergangen.» Christa Wolf fügte diesem Satz in «Kindheitsmuster» (1976) hinzu: «Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd». Aber historisch Versäumtes, geschichtlich Unabgegoltenes lebt fort als die Erinnerung, dass man es schon einmal besser wusste.

Bis zum nächsten Mal.